Neues von Osama bin LadenEine Lotterie namens Guantánamo

Washington. Als die Flugzeuge am 11. September 2001 in das World Trade Center in New York rasten, befand sich ein harter Kern der Al-Qaida-Kämpfer im pakistanischen Karachi. Abdel Rahmenin al-Nashiri, der mutmaßliche Attentäter auf das US-Kriegschiff USS Cole, hatte gerade eine Mandeloperation hinter sich

Washington. Als die Flugzeuge am 11. September 2001 in das World Trade Center in New York rasten, befand sich ein harter Kern der Al-Qaida-Kämpfer im pakistanischen Karachi. Abdel Rahmenin al-Nashiri, der mutmaßliche Attentäter auf das US-Kriegschiff USS Cole, hatte gerade eine Mandeloperation hinter sich. Ein anderer Top-Terrorist war in der Stadt, um Laborausrüstung zur Herstellung von Bio-Waffen zu kaufen. Die Ereignisse in New York schauten sie sich im Fernsehen an. Am nächsten Tag machten sich die Männer auf den Weg nach Afghanistan - viele sind noch heute auf der Flucht.Die neuen Wikileaks-Enthüllungen zeichnen ein erstaunlich genaues Bild über die mittlerweile fast zehnjährige Odyssee der Al-Qaida-Spitze. Manches Bizarre ist darunter: So enthüllte die "Washington Post", dass der "Boss der Bosse", Osama bin Laden (Foto: dpa), nachdem er den amerikanischen Bombardierungen um Tora Bora im Dezember 2001 entkam, derart pleite war, dass er sich von einem seiner Bodyguards 7000 Dollar leihen musste. "Eine Summe, die er ein Jahr später zurückzahlte", wie das Blatt vermerkt. Später sei dann umso mehr Bares geflossen. Im November 2002 etwa habe der mutmaßliche Chefplaner der September-Anschläge, Chalid Scheich Mohammed, einem pakistanischen Geschäftsmann eine halbe Million Dollar zur Verwahrung gegeben - verpackt in einer Plastiktüte. Ein mutmaßlicher Attentäter von Bali habe 100 000 Dollar bekommen.

Auch Intimes ist unter den Enthüllungen. So habe sich Al-Nashri, der derzeit in Guantánamo einsitzt und mit der Todesstrafe rechnen muss, potenzhemmende Spritzen geben lassen. Seinen Mitkämpfern habe er geraten, ebenfalls per Injektion gegen ihre Manneskraft vorzugehen - damit sie sich ganz auf den Kampf gegen den Feind konzentrieren könnten.

Geradezu detailliert beschreibt Wikileaks den Fluchtweg bin Ladens. Glaubt man den Enthüllungen, gönnte sich der Mann keine Ruhe. Bereits vier Tage nach dem 11. September habe er arabischen Kämpfern in einem Gästehaus im afghanischen Kandahar eingebläut, "Afghanistan vor der Invasion der Ungläubigen zu verteidigen" und "im Namen Allahs zu kämpfen", schreibt die "Post" weiter. Mutig sei bin Laden gewesen. So habe er gemeinsam mit seiner "Nummer zwei", Eiman al-Sawahiri, in einem Gästehaus in oder bei Kabul übernachtet. Bin Laden habe dort Besucher empfangen und seine Kämpfer auf weitere Anschläge gegen den Westen eingeschworen. Die Frage drängt sich auf: Wenn die Amerikaner so gut über die Wege bin Ladens Bescheid wussten - warum haben sie ihn dann nicht gefasst?

Mitte Dezember gelang es bin Laden erneut, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Es war die Schlacht um Tora Bora im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Laut "Washington Post" hatten sich bin Laden, Al-Sawahiri und eine Handvoll Vertrauter in das Höhlensystem im Gebirge zurückgezogen. Doch während die Amerikaner massiv bombardierten und voller Hoffnung waren, hielt bin Laden vor seinen Anhängern feurige Reden. Kern der Botschaft: "Es ist ein schwerer Fehler und ein Tabu, wegzulaufen, bevor der Kampf beendet ist." Wo sich bin Laden und Al-Sawahiri derzeit befinden, ist nach wie vor unklar. Angeblich habe sich Al-Sawahiri zeitweise "an einem guten Ort niedergelassen, der einem einfachen alten Mann gehört".Washington. Manchmal reichte eine Armbanduhr, um den Verdacht zu erhärten. Trug ein Gefangener eine Casio F-91W, digitale Ziffernanzeige, verbuchten es seine Vernehmer als wichtiges Indiz. Solche Uhren bekam, wer in einem Trainingslager Al Qaidas gelernt hatte, wie man Bomben bastelt. Und obwohl Läden in aller Welt die Casio anboten, landete der Hinweis prompt in einem Handbuch für Verhöre im Lager Guantánamo.

Über 700 bisher geheime Dokumente, offenbar aus dem Datenfundus, den der Obergefreite Bradley Manning an die Internetplattform Wikileaks weiterreichte, geben detaillierte Einblicke in die Gedankenwelt des Camps auf Kuba. Nach Einschätzung der "New York Times", der die Akten zugespielt wurden, lassen sie vor allem einen Schluss zu: "Guantánamo war eine Lotterie".

Es sind die Einzelfälle, die am besten verdeutlichen, wie bisweilen reine Willkür regierte. Der Gefangene Nummer 1051, ein Afghane namens Scharbat, wurde im Mai 2003 festgenommen, nachdem in der Nähe ein Sprengsatz detoniert war. Er habe nichts mit der Bombe zu tun, er hüte lediglich Schafe, beteuerte Scharbat. Nach etlichen Verhören glaubte man ihm. Ein Militärtribunal stufte ihn dennoch als "feindlichen Kombattanten" ein, sodass er bis 2006 in Guantánamo bleiben musste.

Der Bremer Murat Kurnaz wurde noch 2006 Al Qaida zugerechnet und in die Schublade der harten Fälle sortiert: "hohes Risiko", "wahrscheinlich eine Gefahr für die USA, ihre Interessen und Verbündeten". In diesem Fall ignorierte das Weiße Haus die Einschätzung und ließ Kurnaz frei. Dann wiederum glaubten die Geheimdienstler den Geschichten des Afghanen Said Mohammed Alam Schah, der behauptete, er habe seinen Bruder vor den Taliban retten wollen. Nur deshalb habe man ihn in den Reihen der Korankrieger aufgegriffen. 2004 flog man ihn zurück an den Hindukusch, wo er eine Attacke auf den pakistanischen Innenminister organisierte, zwei chinesische Ingenieure entführen ließ und sich schließlich bei einem Attentat in die Luft sprengte. her

Meinung

Finger

in der Wunde

Von SZ-MitarbeiterFriedemann Diederichs

Dass Guantánamo nicht gerade ein Muster-Gefängnis ist und auch Unschuldige oder "kleine Fische" inhaftiert wurden, war schon bekannt. Dass durch die Wikileaks-Veröffentlichungen nun noch einmal der Finger in diese Wunde gelegt wird, ist dennoch zu begrüßen. Zum einen tauchen jede Menge neue Details über haarsträubende Ungerechtigkeiten auf, die das Pentagon am liebsten weiter unter der Decke halten würde. Zum anderen rückt erneut das politische Versagen des Weißen Hauses in den Vordergrund. Barack Obama hatte vollmundig die Schließung Guantánamos in Aussicht gestellt, aber zunächst anderen Themen Priorität gegeben und den Widerstand in Sachen Gefangenen-Umsiedlung unterschätzt. Diese Frage ist wieder ganz akut geworden - zumal bis heute Menschen in dem Straflager einsitzen, an deren Schuld es ganz massive Zweifel gibt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort