Neuanfang und Charakterfrage

Begegnungen" heißt das abstrakte Bild im Großen Saal des Schlosses Bellevue. Es hat schon viel erlebt, vor kurzem Christian Wulffs Rücktrittserklärung. Knapp eine Woche, nachdem sie das Tischtuch zwischen sich zerschnitten hatten, begegneten sich dort gestern Angela Merkel und Norbert Röttgen wieder

Begegnungen" heißt das abstrakte Bild im Großen Saal des Schlosses Bellevue. Es hat schon viel erlebt, vor kurzem Christian Wulffs Rücktrittserklärung. Knapp eine Woche, nachdem sie das Tischtuch zwischen sich zerschnitten hatten, begegneten sich dort gestern Angela Merkel und Norbert Röttgen wieder. Zur Entlassung Röttgens als Umweltminister und zur Ernennung seines Nachfolgers Peter Altmaier. Bundespräsident Joachim Gauck spulte den für alle drei CDU-Politiker hochnotpeinlichen Vorgang in weniger als zehn Minuten routiniert ab, schließlich handele es sich um die "republikanische Normalität" eines Wechsels in einem politischen Amt, wie er sagte. Doch deuteten die Umstände auf alles andere als das.Der Präsident fand lobende Worte für den scheidenden Röttgen, dem er wünschte, dass er der Politik erhalten bleibe. "Vielen Dank", sagte Röttgen artig, als er seine Entlassungsurkunde entgegennahm. Er wirkte wieder ziemlich aufgeräumt und blickte ganz offen in die vielen Kameras. Abschied hatte der Wahlverlierer von Nordrhein-Westfalen schon am Vortag genommen, vormittags in Bonn, nachmittags begann er damit in Berlin. Ohne Presse.

Gauck munterte auch den Neuen auf, der vor einer großen Aufgabe stehe, aber für seine geistige Kraft und innere Ruhe bekannt sei. Da lächelte Altmaier, der sehr ernst wirkte, das erste Mal. Nur eine blickte während der Zeremonie dauerhaft verkniffen, ja düster: Angela Merkel. Und als Röttgen einmal kurz zu ihr herüberschaute, drehte sie sich schnell weg. Schaute die Kanzlerin so, weil sie in den Augen vieler Christdemokraten die Schurkin in diesem Stück ist - und das weiß? Oder war es nur der Jetlag? Merkel war erst drei Stunden vorher vom Nato-Gipfel in Chicago kommend in Berlin gelandet. Immerhin reichte es am Ende zu einem kurzen Händedruck zwischen ihr und Röttgen, dann ein Schlussfoto und Abgang.

Während Röttgen anschließend Altmaier offiziell das Ministerium übergab und der Ex-Minister von den Mitarbeitern viel Applaus erhielt, stand der Kanzlerin der schwierigere Teil des Tages noch bevor - die Sitzung der Unionsfraktion. Das konnte man zumindest meinen, denn in den Reihen der CDU-Abgeordneten rumort es seit Tagen heftig. Beim Treffen der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen kam es am Montagabend offenbar zu lautstarker Kritik an Merkel. Es fielen Wort wie "Vertrauensverlust", "Shitstorm der Kanzlerin" und "Charakterfrage" in ihre Richtung. Befeuert wurden die Debatten noch durch Berichte, die offenbar aus Röttgens Umgebung gestreut wurden, über die wahren Hintergründe des Rausschmisses. Demnach soll Merkel Röttgen vor der Landtagswahl einen Deal vorgeschlagen haben: Wenn er sich öffentlich bereiterkläre, ganz nach Nordrhein-Westfalen zu gehen, werde sie ihn im Fall einer Wahlniederlage bitten, Umweltminister in Berlin zu bleiben. War das ein kalkulierter kleiner Wahlbetrug seitens der Kanzlerin, die einen Minister entlässt, der das Spiel nicht mitmachen wollte? CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe und Fraktionschef Volker Kauder sahen sich gezwungen, mit einer ganzen Kaskade von Interviews Ruhe anzumahnen. Gröhe: "Die Kanzlerin hat zu den Gründen der Entlassung das Entscheidende gesagt."

Röttgen jedenfalls kniff nicht, auch er nahm an der Sitzung der 237 Abgeordneten von CDU und CSU teil, die zum ersten Mal seit dem Wahldesaster und seit dem Rausschmiss des Rheinländers unter der Reichstagskuppel zusammenkamen. Viele Abgeordnete nutzten die Gelegenheit, Röttgen auf die Schulter zu klopfen, ihm Mut zuzusprechen. Würde sich die angestaute Wut jetzt entladen? Wer die Union kennt, der weiß, die Fraktion ist kein Ort für Revolutionen. Merkel machte laut Teilnehmern noch einmal kurz und präzise deutlich, dass sie sich der menschlichen und politischen Tragweite ihrer Entscheidung bewusst gewesen sei. Aber ein personeller Neuanfang sei notwendig gewesen. Sie sparte zudem nicht mit Dank an Röttgen, am Ende gab es Applaus, der Geschasste bedankte sich per Kopfnicken. Niemand meldete sich bei der möglichen Aussprache zu Wort. Das nächste Thema wurde aufgerufen: der Schenkelbrand bei Pferden. So ist das - weiter, immer weiter.