Nähe auf KnopfdruckDas perfekte Feindbild

Boston. Die Klebestreifen auf dem Boden signalisieren, wie weit fremde Personen an den Gouverneur herantreten dürfen. Die meisten Abgeordneten, die mit ihm das Staatshaus von Massachusetts teilten, blieben für ihn namenlos. Selbst zu seinen Mitarbeitern hielt er Distanz. Das war die Welt, die Mitt Romney für sich schuf, als er 2003 für vier Jahre an die Spitze des Bundesstaates rückte

Boston. Die Klebestreifen auf dem Boden signalisieren, wie weit fremde Personen an den Gouverneur herantreten dürfen. Die meisten Abgeordneten, die mit ihm das Staatshaus von Massachusetts teilten, blieben für ihn namenlos. Selbst zu seinen Mitarbeitern hielt er Distanz. Das war die Welt, die Mitt Romney für sich schuf, als er 2003 für vier Jahre an die Spitze des Bundesstaates rückte. "Es war als ob eine unsichtbare Wand zwischen ihm und anderen stünde", beschreibt ein Republikaner gegenüber Biograf Michael Kranish die Schwierigkeit, an Romney heranzukommen. Dieses für Politiker untypische Unbehagen Fremden gegenüber macht dem 65-Jährigen das Leben im Wahlkampf schwer. Seine Bewegungen wirken mechanisch, einstudiert, roboterhaft. Zum Beispiel in Tilton während der Vorwahlen in New Hampshire, wo er nach einem Auftritt Wähler begrüßt. "Wie geht es Ihnen?", erkundigt er sich bei einer älteren Dame, die ein Bild von ihm in der Hand hält. Bevor diese antworten kann, wird ihr von Romneys Helfern schon der Weg zur Essensausgabe gedeutet. Statt einer Unterschrift gibt es eine Portion Spaghetti.Mehr als 300 Mal wiederholt sich diese Szene wie auf Knopfdruck. Ohne dass nur ein Wähler wirklich an Romney herankommt. "Er ist ein Patrizier", sagt ein früherer Mitarbeiter über den Kandidaten, dessen Vermögen auf rund 250 Millionen US-Dollar geschätzt wird. "Bei Leuten, die er nicht kennt, wird er formal. Und wenn er niemanden kennt, dann setzt er eine Maske auf." Richtig wohl fühlt sich Romney nur im Kreise seiner Großfamilie. Vor ein paar Jahren kauften die Romneys in New Hampshire für 2,5 Millionen Dollar eine Villa am Lake Winnipesaukee. Sie verwandelten das Seegrundstück zu einem exklusiven Ferienparadies für den Clan mit eigenem Basketball-, Tennis- und Volleyballplatz, Bootshaus, Jet-Ski und Badestrand.

Viele Amerikaner rätseln darüber, was den distanzierten Politiker eigentlich antreibt, ins Weiße Haus gewählt zu werden. Kenner des Präsidentschaftskandidaten deuten auf Vater George Romney, der 1968 als Kandidat bei den Vorwahlen antrat und gegen Richard Nixon verlor. "Er folgte sein ganzes Leben lang einem Muster, das sein Vater für ihn ausgelegt hatte", meint John Wright, der ein enger Freund der Familie ist.

Bevor er an der Elite-Universität Harvard einen Doppelabschluss in Jura und Betriebswirtschaft machte, ging der fromme Mitt zwei Jahre als Missionar der "Church of Jesus Christ of Latter-day Saints" (LDS) nach Frankreich. Dafür lernte Romney fließend Französisch. Der Kandidat kann seine mormonischen Wurzeln bis 1837 zurückverfolgen als Ur-Ur-Großvater Miles dem Propheten Joseph Smith folgte und später in Utah landete. Mit 34 Jahren war Romney bereits Bischof in Belmont und diente später als Präsident für die ganze Region Boston. In seinem Glauben gründet die Überzeugung, dass Amerika "nicht bloß ein anderer Ort auf der Karte mit einer Fahne ist". So sagt es auch seine Kirche, für die Amerika das "versprochene Land" ist, in dem Gott die Stämme Israels zusammenführen wird.

Als ihn der Finanzier Bill Bain 1983 mit 36 Jahren an die Spitze seiner Neugründung "Bain Capital" setzte, erwies sich Romney aus Sicht der Investoren als Glücksgriff. Der Analytiker mit dem Killer-Instinkt verdiente für die Partner ein Vermögen. Die von Entlassung betroffenen Beschäftigten rächten sich während des Senats-Rennens gegen Ted Kennedy in Massachusetts 1994. Der "liberale Löwe" schickte Kamera-Teams nach Indiana, um dort Interviews mit Fabrikarbeiter einzufangen, die Bain entlassen hatte. Romney verlor haushoch und leidet bis heute darunter. Dass er versucht hatte, sich links von Kennedy zu positionieren, brachte ihm zudem das Etikett des opportunistischen "Flipflop"-Politikers ein.

Fast wäre Romney das bei den Vorwahlen der Republikaner zum Verhängnis geworden. Er profitierte allein von einer zersplitterten Rechten. "Die Amerikaner werden sich vermutlich nicht in Mitt Romney verlieben", beschrieb der Chef des Repräsentantenhauses John Boehner offen die Zwangsehe mit dem Kandidaten. "95 Prozent gehen im November für oder gegen Obama zur Wahl." Nicht wegen Romney. Washington. Todd Akin denkt nicht daran, das Handtuch zu werfen. Während ihn praktisch das gesamte Establishment der Republikaner zum Verzicht auf seine Senatskandidatur drängt, sieht sich der Kongressabgeordnete aus Missouri in der Rebellenrolle im Kampf gegen Abtreibungen. Es brennt unter dem Dach der Republikaner, und das ausgerechnet vor dem Nominierungskonvent nächste Woche in Tampa, bei dem Romney offiziell zum Bewerber fürs Weiße Haus gekürt werden soll. Auf solchen Kongressen kurz vor der Wahl mag die Regie keine langen Debatten, schon gar keine kontroversen. Alles soll sich um den Spitzenmann drehen, möglichst harmonisch und patriotisch und mit einem Hauch Hollywood. Schon vom Timing her hat Akin, einer der konservativsten Abgeordneten des Repräsentantenhauses, seiner Partei einen Bärendienst erwiesen, so jedenfalls sieht es Romney. Geht es nach dem kühlen Pragmatiker aus dem liberalen Boston, sollen Reizthemen wie Abtreibung und Schwulenehe im Wahlkampf nur eine Randrolle spielen, eindeutig im Schatten des wirtschaftspolitischen Diskurses. Nun droht ihm ein obskurer Nebendarsteller aus der tiefsten Provinz einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen. In einem Fernsehinterview hatte Akin von "legitimen" Vergewaltigungen gesprochen und hinzugefügt: "Wenn es sich um eine echte Vergewaltigung handelt, hat der weibliche Körper Möglichkeiten, die ganze Sache abzustellen". Die unsinnigen Bemerkungen lösten zu gleichen Teilen Schock und Spott aus. Kolumnisten schreiben von einem Gottesgeschenk an Barack Obama, der nun schwankende Wählerinnen auf seine Seite ziehen könne. Akin, das perfekte Feindbild, die perfekte Klammer, die das liberale Amerika vereint und mobilisiert.

Der frühere Ingenieur möchte Senator werden, und bis zu dem abstrusen Satz lag er gut im Rennen. Claire McCaskill, seine demokratische Rivalin, seit 2007 in der kleineren der beiden Parlamentskammern vertreten, leidet unter einer Art Amtsinhabereffekt: Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und bedrohlicher Haushaltsdefizite haben Herausforderer zurzeit oft die besseren Karten. Gewinnt ein Konservativer in Missouri, könnte es dazu beitragen, die Mehrheit im US-Senat - derzeit 53 zu 47 zu Gunsten der Demokraten - kippen zu lassen. Umso unverblümter drängen die Parteigranden auf Ersatz für den allseits blamierten Akin.

Es liege nicht im nationalen Interesse, dass er im Rennen bleibe, teilten fünf konservative Senatoren seines Bundesstaats, aktuelle und ehemalige, dem Rechtsaußen kurz und knapp mit. Akin sollte einfach auf den Rat seiner Kollegen in Missouri hören, legte Romney seinerseits nach. Worauf sich der Bedrängte erst recht auf die Hinterbeine stellt. "Beim ersten Kanonendonner rennen alle sofort in Deckung", empört sich Akin. Für den Kongress in Tampa hat ein Vorbereitungskomitee auch die Forderungen energischer Abtreibungsgegner in die Leitlinien aufgenommen. Demnach soll der Parteitag darauf drängen, den Schutz menschlichen Lebens in der Verfassung zu verankern. Ein ungeborenes Kind, heißt es in dem Entwurf, habe ein fundamentales Recht auf Leben; dagegen dürfte nicht verstoßen werden. Von Ausnahmen, die Abtreibungen gestatten, etwa nach einer Vergewaltigung, ist in dem Text nicht die Rede. Foto: afp

"Als ob eine Wand zwischen ihm und anderen stünde."

Ein Republikaner über Romney

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