Nach dem Jubel Ernüchterung auf der Krim

Moskau · Alisa Ganijewa ist Schriftstellerin und Feuilletonchefin bei der Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ in Moskau. Ganijewa stammt aus der Republik Dagestan im Kaukasus. Auf Deutsch erschien zuletzt bei Suhrkamp 2014 „Die russische Mauer“. Mit Ganijewa sprach unser Korrespondent Klaus-Helge Donath.

Es ist der erste Frühling nach dem "Krim-Frühling" im vergangen Jahr. Moskau begeht den Jahrestag, als wäre der Anschluss der Krim so etwas wie eine russische Neugeburt gewesen. Junge Russen auf der Krim üben vor den Feierlichkeiten das Marschieren und skandieren begeistert patriotische Parolen. Auch die Bereitschaft das neue Vaterland zu verteidigen, scheint groß zu sein. Im Unterschied zum russischen Mutterland drängen die jungen Männer zum Wehrdienst.

Auf den ersten Blick hat sich an Begeisterung und Freude seit dem Anschluss an Russland nichts verändert. Doch das Leben ist schwieriger geworden.

In einem Jahr hat sich die Halbinsel in eine Insel verwandelt. Die Abschottung war natürlich nicht beabsichtigt und auch der russische Besatzer hat die Folgen vorher wohl nicht bedacht. Schon am Bahnhof von Simferopol wird das augenfällig. Wo früher täglich Dutzende Züge aus Kiew, Moskau oder Minsk einliefen, herrscht Ruhe. Ende Dezember wurde der Verkehr eingestellt. Eine Verbindung in die Ukraine gibt es nicht mehr. Auch der Verkehr über die Straße ist mühsam geworden. Wer die Krim verlassen möchte, ist auf Flugzeug oder Schiff angewiesen, das ihn aufs russische Festland bringt. Die Fährverbindung von Kertsch in den Hafen Kawkas im Osten der Insel ist nach wie vor die Hauptverbindung nach Russland. Im Sommer stauen sich die Autos tagelang vor dem Anleger, im Winter geht es schneller.

Kremlchef Wladimir Putin beauftragte schon im letzten Jahr seinen Freund Arkadij Rotenberg mit dem Bau einer Brücke. Das Unternehmen ist aber technisch anspruchsvoll und ziemlich kostspielig. Rund drei Milliarden Euro stellte der Kreml dafür in Aussicht. Insgesamt sah der Entwicklungsplan für die Krim 680 Milliarden Rubel vor - rund zehn Milliarden Euro. Doch das war noch vor Wirtschaftskrise, Sanktionen und dem Kurssturz des Rubels. Experten in Moskau vermuten daher, das Vorhaben könnte aufgeschoben werden. Eigentlich sollte der Verkehr über die Meerenge im Dezember 2018 anlaufen. Die "heilige Krim ", wie Putin die Insel nennt, droht kostspieliger zu werden als erwartet.

Die Enttäuschung behalten die Krimbewohner für sich. Sie sind geduldig und hoffen auf die Zukunft. Eine Übergangszeit sei es, meinen viele. Ein bisschen Enttäuschung ist jedoch herauszuhören, nur zugeben möchte das niemand. Denn das würde die Freude mindern, die ihnen die Zugehörigkeit zu Russland dennoch bereitet.

Engpässe treten auch bei der Wasser- und Stromversorgung auf. 85 Prozent des Wasserbedarfs der Krim wurden vom ukrainischen Festland geliefert. Besonders kritisch ist die Versorgung des Marinestützpunktes Sewastopol. Die Stromversorgung funktioniert nur einige Stunden am Tag. Tatsächlich sieht die Zukunft der Krim eher düster aus. Wassermangel bedroht die Landwirtschaft. Der Tourismus als Haupteinnahmequelle der Insel wird in diesem Jahr laut Tourismusministerin Jelena Jurtschenko noch weiter einbrechen. 2014 kamen offiziell drei Millionen Touristen, halb so viel wie 2013. Sie ließen 60 Milliarden Rubel (900 Millionen Euro) auf der Insel, 100 Milliarden weniger als im Vorjahr. Jetzt werden es noch weniger. Auch die Lebenshaltungskosten sind erheblich gestiegen, seit die Ukraine die Insel nicht mehr versorgt. Alles muss über weite und umständliche Wege herangeschafft werden. Die Inflation liegt bei mehr als 50 Prozent, manche Waren des alltäglichen Bedarfs sind doppelt so teuer wie früher.

Ansonsten folgt die Integration der Krim dem innenpolitischen Muster Moskaus: Die Schrauben werden angezogen. Das kannten die Krimbewohner bisher gar nicht. Die Medien wurden umgehend auf Linie gebracht und kritische Journalisten unter Druck gesetzt oder aus dem Land getrieben.

Auf den Straßen kontrollieren unterdessen die "Selbstverteidiger" des Krim-Frühlings. Paramilitärische Einheiten, die aus Dank für die Hilfe beim Anschluss in den Rang staatlicher Ordnungskräfte befördert wurden. Ihnen wird nachgesagt, dass sie legalisierte Wegelagerer seien. Kurzum: Alles ist wie im Mutterland.

Was hat sich seit der Krim-Annexion in Russland verändert?

Ganijewa: Eine Informationsblockade wurde verhängt und die ganze Gesellschaft ist in Alarmbereitschaft. Die Aggression, die von der Anti-Maidan-Bewegung, die der Kreml gegen Proteste in Russland ins Leben rief, zur Schau gestellt wird, hätte ich vor einem Jahr für undenkbar gehalten. Die Vorstellung, was in einem Jahr sein könnte, ist schrecklich. Das Feindbild wird weiter ausstaffiert. Wer vor kurzem noch ein vernünftiger Mensch war, kann morgen schon wahnsinnig sein. Wir bewegen uns auf einem sehr schmalem Grat.

Ist es nicht auffällig, dass die Menschen plötzlich wieder an Politik interessiert sind?

Ganijewa: Viele kümmern sich nach 25 Jahren erstmals wieder um Politik: Taxifahrer, Verkäufer, Friseure. Alle sprechen davon, wie Putin Russland rettet. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage vor ihren Augen verschlechtert und die Preise steigen. Das schweißt die Menschen noch weiter gegen den "äußeren Feind" zusammen. Schuld sind die Amerikaner. Niemand begreift, dass die Krise hausgemacht ist und nur zufällig mit den Sanktionen zusammenfiel.

Hat sich das Misstrauen noch tiefer in die Gesellschaft hineingefressen?

Ganijewa: Sobald jemand einen anderen Standpunkt vertritt, ist er entweder bezahlt oder er schielt nach Eigennutz, ist die gängige Haltung. Dass Nachdenken zu einer anderen Haltung verhilft, glauben nur wenige. Die Mehrheit ist fest überzeugt von dem, was im Fernsehen erzählt wird. Das ist sehr gefährlich und droht, in Fanatismus umzuschlagen.

Erinnert Sie das persönlich an etwas?

Ganijewa: Mich beunruhigt unsere Tradition der Denunziation. Zu Sowjetzeiten war sie allgegenwärtig. Selbst der Hausmeister spitzelte ohne finanzielle Gegenleistung. Bespitzeln war Pflicht und das veränderte die Moral. Der Boden ist auch 25 Jahre später noch fruchtbar.

Einst war Europa Hoffnungsträger in Russland, heute ist es ein Synonym für Sodom und Gomorrha.

Ganijewa: Europa ist in der stereotypen Vorstellung zu einer Kloake geworden, wo Frauen mit langem Bart herumlaufen. Orientieren wir uns dorthin droht uns dasselbe! Dabei reisen viele nach Europa und sehen, dass keineswegs jeden Tag Gay-Paraden stattfinden. Wieder zuhause dreschen sie trotzdem dieselben Phrasen. Die Offenheit der Grenzen hat bei uns keinen Einfluss auf Toleranz und Meinungsvielfalt. Es sind vor allem Staatsbedienstete, die im Ausland Ferien machen und die Vorzüge des europäischen Systems erkennen. Entweder führen sie das Volk absichtlich hinters Licht oder sie sind selbst verwirrt. Trotzdem schicken sie ihre Kinder zum Studieren in den Westen. Irgendetwas muss in den Köpfen während der Sowjetzeit zu Bruch gegangen sein, denn es handelt sich hierbei um ein gesellschaftliches Phänomen. Die Angepassten dominieren auch in der jungen Generation.

Russland schaut inzwischen auf die Ukrainer als wären sie alle "Faschisten "...

Ganijewa: Das Verhältnis zu den Ukrainern ist auf lange Zeitvergiftet. Natürlich gibt es dort Faschisten , die es aber nicht einmal ins Parlament schafften. Bei uns findet dagegen jedes Jahr der "Russische Marsch" statt - eine Sammlung faschistischer Gruppen. Davor verschließt man die Augen. Mit dem Faschismus hat sich die russische Gesellschaft nie auseinandergesetzt. Bei uns gehört Antisemitismus zum Alltag. Wo man auch hingeht, wird genauestens auf Deinen Familiennamen geschaut. Hass auf Kaukasier hat immer Konjunktur. Die Hetze läuft nun schon seit Jahren und irgendwann fruchtet sie dann auch mal.

Meinung:

Insel ohne Perspektive

Von SZ-KorrespondentKlaus-Helge Donath

Russland wird sich berauschen, an sich selbst und seinem mutigen "Lider". Die Feierlichkeiten zum einjährigen Krim-Frühling werden unter dem Zeichen von Selbstlob und Hybris stehen. Marschmusik und klebriges Pathos werden die Einheit aller Russen und dieZukunft der "russischen Welt" beschwören. Das Wort ist in Russland wichtiger als die Tat. Davon können die Krim-Bewohner schon nach einem Jahr ein Lied singen. Sie hatten erwartet, dass sie mit dem reichen Russland in Kürze besser dastehen als mit der ärmlichen Ukraine. Wenn es ihnen nicht schlechter geht, so geht es ihnen auch nicht besser. Doch die Zukunft sieht noch trauriger aus. Russlands Raubzug hat der Insel die Perspektive genommen.

Zum Thema:

HintergrundKremlchef Wladimir Putin hat Vorwürfe zurückgewiesen, das Einverleiben der Halbinsel Krim von langer Hand geplant zu haben. Bei den Massenprotesten in der Ukraine vor einem Jahr sei "extremer Nationalismus" sichtbar geworden. "Erst dann, das will ich betonen, entstand der Gedanke, dass wir die Menschen in dieser Situation nicht alleine lassen können", sagte er gestern im Staatsfernsehen. Russland habe der Krim-Bevölkerung die Gelegenheit gegeben, in einer Abstimmung über ihre Zukunft zu entscheiden. Er würde in derselben Lage wieder so handeln, betonte Putin. Heute jährt sich das Referendum zum ersten Mal. dpa

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