Nach dem Höhenflug droht eine harte Landung

Berlin. Cem Özdemir vermeidet jede Euphorie. "Wir nehmen das entgegen mit Demut", sagt der Grünen-Chef über den aktuellen Umfrage-Hype für seine Partei. 30 Jahre nach ihrer Gründung scheint der Zuspruch für die Grünen keine Obergrenze zu haben. Doch ob das der kleinsten Oppositionskraft etwas nützt, ist offen

 Renate Künast werden Chancen eingeräumt, in Berlin erste grüne Regierungschefin eines Bundeslandes zu werden. Foto: dpa

Renate Künast werden Chancen eingeräumt, in Berlin erste grüne Regierungschefin eines Bundeslandes zu werden. Foto: dpa

Berlin. Cem Özdemir vermeidet jede Euphorie. "Wir nehmen das entgegen mit Demut", sagt der Grünen-Chef über den aktuellen Umfrage-Hype für seine Partei. 30 Jahre nach ihrer Gründung scheint der Zuspruch für die Grünen keine Obergrenze zu haben. Doch ob das der kleinsten Oppositionskraft etwas nützt, ist offen. Die Demoskopen sehen die Grünen in Berlin bei 27 Prozent - sie wären damit erstmals stärkste Kraft in der Hauptstadt. In Baden-Württemberg liegen sie mit 24 Prozent gleichauf mit der SPD. Im Bund würden sie Umfragen zufolge von 10,7 Prozent bei der Wahl 2009 auf 16 bis 19 Prozent zulegen. "Unser Job ist es, dauerhafte Grünen-Wähler aus ihnen zu machen", sagt Özdemir. "Wir haben solche Ergebnisse bislang nicht erreicht", mahnt der Realo-Abgeordnete Omid Nouripour. Deshalb müsse nun weiter an realistischer Finanz-, Sozial- und Steuerpolitik gefeilt werden. Die Grünen stehen vor einem Spagat: Sie wollen die, die nun mit ihnen liebäugeln, tatsächlich gewinnen und binden - ohne uneinlösbare Versprechungen zu machen. Das Chaos-Image von Schwarz-Gelb, die Selbstbeschäftigung von SPD und Linken und das Versprechen einer weitgehend schmerzfreien ökologischen Modernisierung der Wirtschaft - das ist Treibstoff für den grünen Höhenflug. In Hamburg hat Schwarz-Grün den Abgang von Ole von Beust zunächst unbeschadet überstanden - und Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen steigert bei den Grünen die Hoffnung auf die Möglichkeit neuer Zweierbündnisse ohne die FDP oder die Linken. Doch in den derzeit machtpolitisch spannendsten Ländern drohen die Grünen Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. In Baden-Württemberg profitieren sie vom Widerstand gegen den gigantischen Bahnhofsumbau Stuttgart 21. Doch die Perspektive Schwarz-Grün rückt damit in weite Ferne, weil Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) an dem Bau festhält, ebenso die Landes-SPD. "Die SPD wird es sich nicht auf Dauer leisten können, gegen ihre Basis Politik zu machen", sagt Özdemir. SPD-Landes-Generalsekretär Peter Friedrich keilt zurück: "Offensichtlich machen die Umfragewerte Herrn Özdemir besoffen." Auch in der Stadt Berlin droht ein Kampf zwischen Grün und Rot. Wenn die Bundestags-Fraktionschefin Renate Künast gegen Bürgermeister Klaus Wowereit antritt, könnte die vergrätzte SPD am Ende an der Seite der CDU in einer Koalition landen. Was würde dann aus einer Kandidatin Künast? Zur möglichen Kandidatur will sie sich im Herbst äußern. Trotz steigenden Drucks bleibe es bei diesem Zeitplan, hieß es am Freitag lediglich.Streit um KoalitionenWelche Koalitionen die Grünen überhaupt eingehen wollen, ist in der Partei weiter umkämpft. "Lagerübergreifende Koalitionen schaden der Demokratie", sagte der linke Jungstar Arvid Bell. Bell verlässt zwar nun wegen eines Auslandsaufenthalts den Parteirat - doch ist seine Haltung in der Partei verbreitet. Wie können die Grünen ihre Flughöhe halten, ohne ihr Bild als Querdenkerin unter den Parteien zu gefährden? Özdemir will, dass die Grünen als "die etwas andere Partei" wahrgenommen werden. "Das ist die Weiterentwicklung der Anti-Parteien-Partei." Parteimitbegründerin Petra Kelly beschrieb es einst so: "Anti-Parteien-Parteien üben nicht Macht im alten Herrschaftssinn aus." Derzeit stellt sich den Grünen eher die Frage, ob sie überhaupt mehr Macht bekommen. Meinung

Pragmatisch oder beliebig?

Von SZ-RedakteurJörg Wingertszahn Stimmungen sind keine Stimmen. Das mag für die FDP zurzeit ein Trost sein, für die Grünen sollte es ein Grund für Bescheidenheit sein. Den augenblicklichen Höhenflug in den Umfragen haben sie nicht zuletzt der Schwäche der anderen Parteien zu verdanken. Schwarz-Gelb hat bislang viele Wähler durch zahlreiche Kapriolen, leere Versprechungen und koalitionsinternen Streit nur enttäuscht; zu wenig wurde tatsächlich umgesetzt. Die SPD ihrerseits sucht nach ihrem Kurs und dem richtigen Umgang mit der Linkspartei. Da sehen viele Wähler die Grünen als einzig brauchbare Alternative. Und die einstige Ökopartei nutzt das für Koalitionen, sei es mit der SPD, der CDU oder mit CDU und FDP wie im Saarland. Man kann das pragmatisch nennen - aber auch beliebig. Das Urteil darüber wird der Wähler fällen.

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