Europa am Scheideweg Mutmacher Macron und das neue Europa

Brüssel/Saarbrücken · 2017 war ein heikles Jahr für die EU. Seit dem Brexit-Votum der Briten steht ihr Fortbestand infrage. Nun bedrohen auch Rechte bei nationalen Wahlen die Einheit. Hoffnung macht Emmanuel Macron.

 Ein symbolisches Bild: EU-Kommissionsschef Jean-Claude Juncker zeigt Briten-Premier Theresa May den Weg – aus der EU.   

Ein symbolisches Bild: EU-Kommissionsschef Jean-Claude Juncker zeigt Briten-Premier Theresa May den Weg – aus der EU.  

Foto: dpa/Virginia Mayo

(SZ/dpa) Es ist ein kühler Septemberabend in Talinn. Man sitzt zusammen bei Black Angus Rind an Auberginenkaviar und Wacholdersauce und staunt – über Emmanuel Macron. Der junge Franzose macht mit seinen forschen Reformvorschlägen, die er vor der Abreise in einer Rede an Studenten der Pariser Sorbonne-Universität formuliert hat, mächtig Wirbel beim Abendessen der 28 Staats- und Regierungschefs in der Hauptstadt Estlands. Mehr Europa forderte er dabei ein. „Das Europa, wie wir es kennen, ist zu schwach, zu langsam, zu ineffizient.“ Seine Lösung: Die „Neubegründung“ des Staatenbundes. Was?

Macrons Worte lösen beim Gipfel in Talinn durchaus Unbehagen aus. Aber sie werden der kriselnden EU am Ende Mut machen. Denn die Monate zuvor regierte im Staatenverbund die Angst. Nach dem Ausstiegs-Votum der Briten 2016 fürchteten viele einen Domino-Effekt. Gerade in diesem so wichtigen EU-Jahr 2017. Mit zentralen Wahlen in Deutschland und Frankreich sowie Österreich und den Niederlanden. Die alles entscheidende Frage: Wie stark würden die Gegner Europas? Die unbequeme Wahrheit: Sie sind stärker geworden. Die Rechten und EU-Feinde haben 2017 vielfach in den Parlamenten Europas zugelegt. Nur: Brüssel gelähmt haben sie nicht.

Zu verdanken hat die EU das auch dem politischen Newcomer aus Paris. Es ist Macrons Wahl, die noch in der ersten Jahreshälfte ein Signal gibt. Ausgerechnet er, ein ehemaliger Investmentbanker und Außenseiter gewinnt als 39-Jähriger die Präsidentenwahl im EU-Schlüsselstaat Frankreich mit einer Pro-EU-Kampagne. Haushoch gegen die rechte Europa-Feindin Marine Le Pen, der lange Chancen eingeräumt wurden. Eine Schmach, die die kühle blonde Front-National-Chefin noch nicht verwunden hat.

Aber auch andernorts stemmten sich Politiker 2017 gegen Versuche, die EU zu zerreden oder gar Auflösungserscheinungen aufkommen zu lassen. Etwa in den Niederlanden. Hier wiesen Ministerpräsident Mark Rutte und seine konservativ-liberale VVD bei der Parlamentswahl die extremen Rechtspopulisten von Geert Wilders in die Schranken. Zudem mahnten die EU-Spitzenvertreter die Mitgliedstaaten ein ums andere Mal, sich bei den Brexit-Verhandlungen nicht auseinanderdividieren zu lassen. Auch das gelang, nicht zuletzt dank katastrophaler britischer Verhandlungsführung. Nichts kennzeichnete die Situation mehr als das Bild der beiden Delegationsleiter, das wohl auch ein wenig inszeniert war, aber der Sachlage entsprach: Auf dem Tisch vor Michel Barnier, dem EU-Beauftragten für den Austritt des Königreiches, türmten sich Aktenberge. Ihm gegenüber saß der Londoner Brexit-Minister David Davis – vor ihm gähnende Leere. Die britische Regierung erschien immer wieder unvorbereitet und ohne Angebot in Brüssel. Lange ging es so weiter. Bis nicht mehr Davis, sondern Premier Theresa May selbst das Heft in die Hand nahm – am Ende gab es im Dezember den Durchbruch. Oder wie die EU-Kommission es ausdrückte: Die Gemeinschaft hatte sich mit ihren Forderungen durchgesetzt.

Geschlossenheit als Erfolgsrezept – das funktioniert tatsächlich. Wie ein weiterer gefährlicher Konflikt zeigte: Katalonien. Eine illegale Volksabstimmung, die keine war, ein überforderter spanischer Ministerpräsident, dem man in der Krise den Rücken stärkte, ein katalonischer Regierungschef, der nach Brüssel flüchtete und dort fortan auf ein Gespräch mit der EU-Führung wartete – vergeblich. Zu groß war die Furcht der Staats- und Regierungschefs, dass sich der Autonomie-Virus rasend schnell ausbreiten, Schotten, Flamen, Basken und Südtiroler infizieren könnte. Katalonien – ein Fieber, das man erst einmal im Keim ersticken konnte, das allerdings auch nach der Parlamentswahl im Dezember nicht geheilt scheint.

Europa demonstrierte auch gegen die Türkei Stärke. Dabei braucht Europa Ankara eigentlich als Partner. Stichwort: Flüchtlingsdeal. Nur so kann der Kontinent die Balkan-Route effektiv schließen. Ein Muss, denn die massive Einwanderung durch syrische Kriegsflüchtlinge wirkte wie ein Katalysator auf das Erstarken rechter Strömungen in Europa. Ungarns Präsident Viktor Orban profitierte von dieser Anti-Stimmung. Der junge Sebastian Kurz konnte mit seiner harten Linie überraschend die Nationalratswahl in Österreich gewinnen – und die AfD zweistellig ins Parlament einziehen. Doch weil Recep Tayyip Erdogan die Türkei im Eilverfahren in einen autoritären Präsidialstaat umbaute, musste Europa reagieren. Die riskante, da folgenschwere Reaktion Brüssels lautete: So wird das nichts mehr mit der Türkei und der Mitgliedschaft in der EU.

Längerfristige Folgen für Europa hat sicher der Antrittsbesuch des neuen US-Präsidenten Donald Trump im Mai. Der Amerikaner verteilte allen diplomatischen Gepflogenheiten zum Trotz gegenüber EU und Nato einen Rüffel nach dem anderen. Forderte mehr Geld fürs Verteidigungsbündnis und drohte wild. Mit der Reaktion dürfte er nicht gerechnet haben: Innerhalb weniger Monate stampfte Europa ein eigenes Militärbündnis aus dem Boden: die Pesco. Anfangs war nur die Rede davon, günstig Waffen und andere Kriegsmaschinen anzuschaffen. Am Ende auch von einer europäischen Armee. Die sollte aber weniger verteidigen (und schon gar nicht angreifen), sondern ist für den demokratischen Aufbau in Krisenregionen gedacht. Ende des Jahres besiegelten 25 Mitgliedstaaten eine neue Allianz: Das Projekt schaffte ein neues Gemeinschaftsgefühl.

 Jung und aufstrebend: Sebastian Kurz von der ÖVP. Die Österreicher standen bei der Parlamentswahl hinter ihm und seinem Flüchtlings-kritischen Kurs.

Jung und aufstrebend: Sebastian Kurz von der ÖVP. Die Österreicher standen bei der Parlamentswahl hinter ihm und seinem Flüchtlings-kritischen Kurs.

Foto: dpa/Helmut Fohringer
 Gemeinsam für die Autonomie: Mit erhobenen Händen drängten diese Katalanen Anfang Oktober in die Wahlbüros, um für die Unabhängigkeit zu stimmen.

Gemeinsam für die Autonomie: Mit erhobenen Händen drängten diese Katalanen Anfang Oktober in die Wahlbüros, um für die Unabhängigkeit zu stimmen.

Foto: dpa/Felipe Dana
 ARCHIV - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gibt am 16.04.2017 in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Die Türken stimmen heute über eine Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems ab, das dem Staatspräsidenten mehr Macht verleihen würde. Foto: Lefteris Pitarakis/AP/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++

ARCHIV - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gibt am 16.04.2017 in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Die Türken stimmen heute über eine Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems ab, das dem Staatspräsidenten mehr Macht verleihen würde. Foto: Lefteris Pitarakis/AP/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++

Foto: dpa/Lefteris Pitarakis

Und so geht Europa – abgesehen von anhaltenden Zerwürfnissen in der Flüchtlingsfrage und einem Strafverfahren gegen Polen – einigermaßen gestärkt ins neue Jahr. Doch ist nicht absehbar, wie lange das anhalten kann: Die Anti-Brüssel-Stimmung in einigen östlichen Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn wächst. Und die Bereitschaft der Übrigen, mangelnde Solidarität mit Subventionskürzungen zu rächen, auch. Ein weiter Weg also noch zu Europas „Neubegründung“.

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