"Mund auf, gleich knallt's!"

Saarbrücken. Die ersten Studenten kamen um Viertel nach Sechs. Um Acht ist da schon alles zu spät. "Ich wäre eigentlich eine halbe Stunde früher hier gewesen", sagt der junge Bärtige mit der Nikolausmütze: "Aber mein Auto ist nicht angesprungen." Das ist Pech. Oder auch nicht. Denn die halbe Stunde hätte ihm auch nicht geholfen. Die Sitzplätze sind lange weg

Saarbrücken. Die ersten Studenten kamen um Viertel nach Sechs. Um Acht ist da schon alles zu spät. "Ich wäre eigentlich eine halbe Stunde früher hier gewesen", sagt der junge Bärtige mit der Nikolausmütze: "Aber mein Auto ist nicht angesprungen." Das ist Pech. Oder auch nicht. Denn die halbe Stunde hätte ihm auch nicht geholfen. Die Sitzplätze sind lange weg.

Nein, es ist nicht Robbie Williams, der da gleich pünktlich um 9.15 Uhr zum Mikro greift, auch nicht Lady Gaga, die Foo Fighters oder wer sonst gerade angesagt sein mag. Es geht um Chemie. Man muss sich das vorstellen: Studenten, Hunderte, in aller Früh, freitags, im Winter, an der Uni. Gut gelaunt, voller Vorfreude. Dass passt irgendwie nicht. Es muss also etwas Besonderes sein. Und das ist es: Kult, seit Jahren. Und doch ist diesmal alles anders: Es ist die 25. und letzte Weihnachtsvorlesung von Michael Veith, Professor für Anorganische und Allgemeine Chemie an der Saar-Uni.

600 Menschen quetschen sich seit Stunden in den viel zu kleinen Hörsaal, Kollegen, Mitarbeiter, der Uni-Präsident, Fans, treue und neue, um dabei zu sein an diesem historischen Tag.

20 Minuten vorm Start wirkt Veith ruhig und konzentriert. "Ich wusste, dass es voll werden könnte, aber dies hier ist beeindruckend", sagt er und blickt ungläubig in den Saal, in den immer noch Menschen strömen. Wer schlau ist und dreist, hat sich durch den Hintereingang reingeschlichen. Eine gute Idee. Eigentlich. Denn auch hier ist kein Durchkommen mehr.

Es hat in der Tat etwas von einem Gastspiel einer weltbekannten Band, das Gedränge, die ausgelassene Stimmung. Und aus dem Lautsprecher in der Ecke dröhnt die passende Musik. Irgendwer hat eine Rock-CD aufgelegt ("Classic Rock Super Stars, Vol. 1"), gerade läuft The Doors - "Come on, baby, light my fire. Try to set the night on fire." Komm, mein Schatz, entfache mein Feuer. Versuch, die Nacht in Brand zu stecken. Kein Lied würde besser passen. Denn in der kommenden Stunde wird Veith, eine Art Rockstar der Chemie, genau das machen. "Es muss knallen, es muss rauchen, es muss Feuer geben", wird er später sagen und seine Bühne in dichten Nebel hüllen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Veith, so sein vollständiger wissenschaftlicher Name, ist einer der anerkannten Größen des Fachs, eigentlich kümmert er sich um Tieftemperaturstrukturchemie, Moleküldynamik oder metastabile Festkörperschichten. 1991 erhielt er den Leibniz-Preis, die höchstdotierte wissenschaftliche Auszeichnung in Deutschland. In diesem Jahr kam der Wilhelm-Klemm-Preis dazu, das Größte, was die Chemiker-Szene zu vergeben hat. Auch Bundespräsident Köhler hat seine Künste schon erlebt. Doch so gefeiert wie Jahr für Jahr in Saarbrücken in den Tagen vor Weihnachten wird er nirgendwo sonst. Und so gefeiert wie diesmal wurde er noch nie. Super, spektakulär lauten am Ende die Kommentare.

Jemanden, der Wasser in Wein verwandeln konnte, gab es schon vor langer Zeit. Dieser Mann aber verwandelt vor den staunenden Augen des Publikums Wasser in Weißwein und den dann gleich noch in Rotwein. (War aber ein Trick - aus dem angeblichen Filter floss echter Rotwein).

Die Vorlesung vergeht wie im Flug. Eben noch hat Veith Hundepipi (?!) zu Gold gemacht und aus Gummibärchen Licht erzeugt - schon ist die Wasserstoff-Kanone zum Abschuss bereit. "Mund auf, gleich knallt's", ruft Veith. "Oh, das war eher ein Knällchen", sagt er, die Menge lacht, der Versuch wird gleich wiederholt. "Peng, bong", schon besser. Später lässt er ähnlich geräuschgewaltig einen Flaschengeist entweichen und mit Gas gefüllte Eier explodieren. Zum großen Finale kracht ein Feuerwerk durch den Hörsaal, danach minutenlanger Applaus, keiner bleibt sitzen. Gerührt nimmt es Veith hin, bedankt sich bei den Studenten, dankt seinen Helfern, allen voran seiner rechten Hand Andreas Adolf und dessen Vorgänger Werner Weckler, der auch nochmal mitmischt. Und um 10.14 Uhr spricht der Professor dann die bitteren Worte: "Und das war's. 25 Jahre Weihnachtsvorlesung." Das Ende einer Ära.

Oder doch nicht? Im November wurde Veith 65, doch er bleibt der Uni als Senior-Professor erhalten. Man mag nicht glauben, dass das sein letzter Auftritt war. "Schaun mer mal", sagt der Mann, der in Bayern aufgewachsen ist. Gibt es doch eine Fortsetzung? "Ich weiß nicht, ich halte mich jetzt erstmal zurück. Vielleicht findet sich ja ein Nachfolger."

Er würde in übergroße Fußstapfen treten. Nach der Vorlesung wird Veith umlagert, Fernsehen, Radio, alle wollen Interviews. Er wird von Lob überschüttet, auch Uni-Präsident Linneweber ist fasziniert "von der Mischung aus Zauberei und echten Experimenten".

Veith ist das Rampenlicht fast peinlich. Er, ein Star der Jugend? "Das ist natürlich zu viel gesagt, aber es ist schon phantastisch, was hier los war. Klar kommt da Wehmut auf." Das Wichtigste sei ihm immer gewesen, jungen Menschen sein Fach näher zu bringen, sie zum Nachdenken anzuregen: "Die Studenten sollen rausgehen und sich fragen, was dahinter steckt. Und sie sollen begreifen: Wissenschaft ist toll, damit kann man was anfangen."

Professor Michael Veith hört jetzt auf mit dem Weihnachtsspektakel. Doch vielleicht gibt er irgendwann wirklich ein Comeback. Er wäre nicht der erste "Rockstar", den es nochmal auf die große Bühne zieht.