Prostitution Morgens Schule, abends Hure

Saarbrücken/Wiesbaden · Mit der „Loverboy-Methode“ locken Zuhälter in ganz Europa Minderjährige in die Prostitution. Auch im Saarland besteht Aufklärungsbedarf.

 Sie sind jung und deshalb leichte Beute: Durch die Möglichkeiten der digitalen Welt können Mädchen und junge Frauen leichter auf Zuhälter hereinfallen, die ihnen die große Liebe vorgaukeln.

Sie sind jung und deshalb leichte Beute: Durch die Möglichkeiten der digitalen Welt können Mädchen und junge Frauen leichter auf Zuhälter hereinfallen, die ihnen die große Liebe vorgaukeln.

Foto: picture-alliance/ dpa/Norbert Försterling

Als sie ihn kennenlernte, war sie minderjährig. Schülerin an einem Gymnasium in Süddeutschland. Ihren Wohnort und echten Namen will sie nicht nennen. Sie möchte sich schützen. Denn das, was Sandra Norak, wie sie für die Öffentlichkeit heißt, in ihrer Jugend erlebt hat, wird sie nie vergessen.

Die Frau, die heute 28 Jahre alt ist und mittlerweile ein normales Leben führt, wurde als Jugendliche Opfer eines Menschenhändlers. „Ich habe damals viel Zeit im Internet verbracht. Zu Hause lief es nicht gut, und es war meine Flucht aus der Realität“, sagt Norak. Stundenlang habe sie mit ihrem späteren Zuhälter gechattet. Dass der Mann, der 20 Jahre älter war als sie und drei Stunden Autofahrt von ihr entfernt wohnte, sie später einmal zur Prostitution drängen würde, wäre ihr damals nie in den Sinn gekommen. „Er war immer für mich da.“ Es dauert lange, bis der Mann, den sie zunächst nur online kennt, ein reales Gesicht bekommt. Er fährt zu ihr, sie begegnen sich erstmals persönlich. Ein ehemaliger Fremdenlegionär, zwei Meter groß. Mit Nahkampfausbildung. „Er war optisch überhaupt nicht mein Typ. Aber er war zu meiner Bezugsperson geworden. Er sagte, er würde mir helfen, ich vertraute ihm.“

Ein Muster, das auch die Polizei beschäftigt – bekannt als „Loverboy-Methode“. Im Lagebild des Bundeskriminalamts (BKA) zum Menschenhandel im Jahr 2016 sind dieser Masche mehrere Passagen gewidmet. Dort heißt es: „In sozialen Netzwerken und Dating-Portalen kommt der sogenannten ‚Loverboy-Methode‘ eine besondere Bedeutung zu. Dabei kontaktieren die Täter junge Frauen, bauen eine Beziehung und häufig eine emotionale Abhängigkeit der Opfer auf, um sie schließlich zur Aufnahme der Prostitution zu bewegen.“

Das BKA geht davon aus, dass künftig mehr solcher Loverboys online ihre Opfer kontaktieren. Im BKA-Bericht steht das Delikt unter „Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung“.

Die offiziellen Zahlen bilden wegen der hohen Dunkelziffer nur einen Teil der Realität ab: 363 Ermittlungsverfahren, 524 Tatverdächtige, 488 Opfer (Zuwachs zum Vorjahr: 17 Prozent), 95 Prozent weiblich. 214 davon: minderjährig. Die meisten (180): zwischen 14 und 17 Jahren. Jedes fünfte Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung (22 Prozent) wird demnach unter Täuschung zur Prostitution verleitet. Das Loverboy-Phänomen betrifft laut BKA vor allem 19- bis 26-jährige Frauen aus Deutschland, Rumänien und der Ukraine.

„Wir brauchen ein Umdenken“, sagt Petra Stopp vom Saarbrücker Verein Hadassah, der seit 2015 über Prostitution aufklärt. Sie und ihre Kolleginnen Beate Stout und Mar­gret Müller wollen Maschen wie die Loverboy-Methode ins Bewusstsein rücken. Und sie wünschen sich für Deutschland einen Ansatz wie in Frankreich, wo seit 2016 in erster Linie Freier, also die Nutzer von Prostitution, Rechenschaft ablegen müssen. „Nach Saarbrücken kommen ganze Busse mit Freiern aus Paris. Weil’s hier so billig ist“, empört sich Stout. Die Landeshauptstadt sei zur Hochburg der Billig-Prostitution verkommen. „In Metz sagt man uns: Die Deutschen machen die Preise kaputt.“ Stopp nickt und schüttelt den Kopf: „Warum braucht das Saarland so viele Bordelle?“ Die Frauen befürchten, dass Loverboys in der Grenzregion leichtes Spiel haben. „Junges Fleisch“ sei hoch im Kurs.

Ein Problem, das die Öffentlichkeit in den Niederlanden schon länger beschäftigt. Dort entstand auch in Anspielung auf das Vorspielen der großen Liebe vor knapp 20 Jahren der Begriff Loverboy. Schätzungen zufolge fallen dort jährlich 1500 Mädchen den Don Juans zum Opfer.

Und im Saarland? Polizei-Sprecher Georg Himbert spricht von einem „Randphänomen“, von einem „verschwindend geringen Anteil“. Zahlen hat er jedoch nicht. Nur so viel: Dem Landespolizeipräsidium seien in den Jahren 2013 bis 2017 drei Fälle von „Menschenhandel zum Nachteil von Minderjährigen“ bekannt. „Es ist dennoch nicht verkehrt, das zu thematisieren“, sagt Himbert. Denn, und das legt auch das Lagebild des BKA nahe, die Polizei ist zur Aufklärung der Loverboy-Fälle auf die Kooperation der Opfer angewiesen. Das Problem: Die Frauen sind oft emotional von ihren Peinigern so abhängig, dass sie sie nicht anzeigen. Und wenn sie den Absprung schaffen, ist die Rückfallgefahr hoch.

Eine Schätzung der Dimension kann selbst der Verein „No loverboys“ nicht abgeben, deutschlandweit eines der wenigen Hilfsangebote für Betroffene. Unter dem Reiter „Aktuelles“ steht auffällig markiert: „Wie viele Loverboy-Opfer gibt es in Deutschland? Eine Antwort haben wir nicht. Wir können aber eins sagen: Heute wurden uns allein vier sechzehnjährige Loverboy-Opfer gemeldet. Es muss mehr Aufklärung zu diesem Thema geben.“

Und genau das ist das Ziel einer Fachtagung morgen, 14. April, in Saarbrücken. Auch Sandra Norak wird dort sprechen. Erzählen, wie ein Loverboy ihre erste Liebe wurde. Wie sie in einen Strudel geriet, den sie immer wieder „Parallelwelt“ nennt. Eine Welt, in der sie sechs Jahre lang gefangen sein sollte. Am Telefon macht Norak immer wieder Pausen, bricht auch mal in Gelächter aus. So als könne sie nichts mehr entsetzen, kein Detail mehr schockieren. „In dem Moment fühlt man oft den tatsächlichen Schmerz nicht. Man spaltet ihn ab. In der Psychologie nennt man das Dissoziation.“

Norak hat sich viel mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt. „Ich kannte den Begriff Loverboy davor nicht. Dass es diese Masche gibt, habe ich erst viel später erfahren. Man kann zunächst gar nicht glauben, dass es so perfide Leute gibt.“ Und dabei könnte ihr Fall exemplarischer nicht sein: Es ist damals nur eine Frage der Zeit, bis Norak fast jedes Wochenende in der Wohnung ihres neuen Freundes verbringt. Er beginnt, sie mit in die Bordelle seiner Freunde zu nehmen. „Wir gehen da nur was trinken“, habe er zunächst zu ihr gesagt. Bis er sie eines Tages direkt fragt, ob sie Lust hätte, anschaffen zu gehen. Man könne schnell viel Geld verdienen. Sie weigert sich. Doch dann zückt der Loverboy den typischen Trumpf: die Geschichte mit den Schulden. Die könne er nur tilgen, wenn sie ihm helfe. Norak willigt ein. Damals ist sie 18. Die junge Frau glaubt zunächst, sie müsse das nur vorübergehend machen. „Ich habe während der Schulferien angeschafft.“

Nach der zwölften Klasse zieht sie zu ihm, wechselt die Schule und bricht in der 13. Klasse das Gymnasium ab. „Man kann nicht nachts die Freier bedienen und morgens zur Schule gehen.“ Sie gerät nach und nach in weitere Abhängigkeiten, verliert ihre Freunde. „Ich hatte keine Kontakte mehr zur Außenwelt.“ In Flatrate-Bordellen bedient sie bis zu 20 Freier am Tag. Verbringt Tage und Nächte im Rotlichtmilieu. Sechs Jahre lang. Bis sie beschließt, der Parallelwelt den Rücken zu kehren. Anderthalb Jahre habe sie dafür gebraucht.

Hineinzugeraten ist offenbar einfacher, als wieder herauszufinden. Ein Umstand, der auch Miriam Patton aufwühlt. Kürzlich hat die 18-Jährige in Saarbrücken an Mar­gret Müllers Workshop zur Loverboy-Methode teilgenommen. Es war der erste dieser Art, den der Verein seit seiner Gründung angeboten hat.

Patton ist Schülerin am Deutsch-Französischen Gymnasium. „Ich hatte vorher nur flüchtig etwas davon gehört.“ Die zehn Teilnehmerinnen hätten sich Videos von Betroffenen angeschaut und Fragebögen ausgefüllt. Das Selbstbewusstsein trainiert. „Es hätte auch mir passieren können. Man braucht nur gerade eine schwere Phase durchzumachen“, sagt die junge Frau. Die Elftklässlerin wünscht sich ein solches Informationsangebot auch an Schulen. Das Bildungsministerium weist auf Anfrage darauf hin, dass die Aufklärung zu sexueller Gewalt Teil des Lehrplans sei und dass man auch mit Fachstellen zusammenarbeite. In der Digitalisierung sieht die Behörde eine „potentielle Gefahr“ für Kinder und Jugendliche. Deshalb komme es darauf an, Schülern Kompetenzen zur Mediennutzung zu vermitteln.

Für Sandra Norak war der digitale Raum der Zugang zur „Parallelwelt“. Mit Mühe hat sie den Absprung geschafft. Es sei auch heute noch „sehr schwer“, diese Erfahrung hinter sich zu lassen. Einen Ausbildungsplatz bekam die junge Frau wegen der Lücken im Lebenslauf nicht. Stattdessen: Praktika im Zoo, Minijobs. Und dann schließlich ein Vollzeitjob als Pferdepflegerin. Heute studiert sie Jura. Und hat vor allem ein Ziel: Aufklärung. Es gehe darum, ein ganzes System Schritt für Schritt zu ändern. „Die Loverboy-Methode ist kein Randphänomen.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort