Mit neuer Spitze und altbewährten Themen in die Wahl

Erfurt. Die Flügel haben gut funktioniert. Als Cem Özdemir mit einer der gefürchtet-überschwänglichen Umarmungen von Claudia Roth bedacht wird, schwillt auch der Applaus kräftig an. Die Grünen beklatschen ihr neues Führungsduo. Die eine mischt nun schon nach der dritten Wahl in Folge ganz oben mit, der andere zum ersten Mal

 Typisch Grüne? Zwei Wahlurnen für Männlein und Weiblein. Foto: dpa

Typisch Grüne? Zwei Wahlurnen für Männlein und Weiblein. Foto: dpa

Erfurt. Die Flügel haben gut funktioniert. Als Cem Özdemir mit einer der gefürchtet-überschwänglichen Umarmungen von Claudia Roth bedacht wird, schwillt auch der Applaus kräftig an. Die Grünen beklatschen ihr neues Führungsduo. Die eine mischt nun schon nach der dritten Wahl in Folge ganz oben mit, der andere zum ersten Mal. Und das alles mit einem für grüne Verhältnisse geradezu überwältigenden Votum. Noch vor zwei Jahren kam Roth auf magere 66,5 Prozent der Stimmen. Diesmal sind es fast 17 Prozent mehr. Und Özdemir liegt nur knapp darunter.

Wählst du meine Linke, wähle ich deinen Realo. So hatten es beide Parteiströmungen vorher ausgekungelt. Und im Gegensatz zu früheren Gelegenheiten hielten sich beide Lager an die Abmachung. "Gut, dass die Ergebnisse so nahe beieinander liegen", schwärmt Fraktionschefin Renate Künast. "Das macht sie zu zwei gleich starken Vorsitzenden." Bei der Wahl der beiden Spitzenkandidaten für die nächste Bundestagswahl geht die Parteitagsregie aber gleich auf Nummer Sicher. Künast und ihr Fraktionsstellvertreter, Ex-Umweltminister Jürgen Trittin, treten in einer gemeinsamen Abstimmung an. Mit 92 Prozent ist das Ergebnis geradezu traumhaft. Das Spitzenergebnis für Özdemir aber ist nicht unbedingt ein Selbstläufer. Zwischenzeitlich wurde sogar befürchtet, dass der "anatolische Schwabe" (Özdemir über Özdemir) seine Führungsambitionen ganz beerdigt. Bei der Kandidatenaufstellung für den Bundestag hatte ihm sein baden-württembergischer Landesverband kürzlich einen aussichtsreichen Listenplatz verweigert. So fuhr Özdemir mit einem großen Makel nach Erfurt. Bei seiner Bewerbungsrede auf dem Parteitag kann der 42-jährige seine Nervosität auch kaum verbergen. Aber grüne Logik geht eben anders: Gerade weil Özdemir in seiner Heimat durchrasselte, soll er nun wie Phönix aus der Asche steigen. Zumal sein Vortrag die Stimmung der Delegierten trifft. "So manches Mal haben wir uns mehr mit uns selbst beschäftigt als mit dem politischen Gegner", sagt Özdemir. Das zielt auf die Eitelkeiten und Machtkämpfe in den grünen Führungsetagen. "Den Kompromiss nimmt man nicht vorweg in der Opposition", donnert er in den Saal. Das liegt ganz auf der Linie seines scheidenden Vorgängers Reinhard Bütikofer, der dazu aufrief, sich nicht als Anhängsel einer anderen Partei zu verstehen. Die Seitenhiebe gelten der Bundestagsfraktion, die für den Geschmack der meisten Grünen politisch viel zu brav ist. Der Vorzeige-Realo Fritz Kuhn bekommt dieses Unbehagen zu spüren. Bei der Wahl zum Parteirat gibt es mehr Bewerber als Plätze. Und der Co-Fraktionsvorsitzende wird in einer hauchdünnen Entscheidung rausgekegelt. "Das schmerzt", bekennt Kuhn sichtlich geschockt. Viele Realos haben freilich auch Rache geübt, weil sich Kuhn nicht für die Bundestagskandidatur seines baden-württembergischen Landsmanns Özdemir verwendet hatte.

Der ist jetzt der grüne Star. Durch seine türkische Herkunft erhoffen sich viele auch eine Erschließung neuer Wählerschichten. Wie zum Beweis trägt eine junge Türkin mit Kopftuch einen Anstecker mit dem abgewandelten Obama-Spruch "Yes, we Cem". Als sie Özdemir zum guten Wahlergebnis gratuliert, liegt ein Hauch von US-Wahlkampf in der Luft.

Auf der Bühne der Erfurter Messe-Halle trommeln der erste deutsche Parteivorsitzende mit Migrationshintergrund und Co-Chefin Roth hernach symbolisch auf einem gelben Atommüll-Fass. Ein Symbol der Selbstvergewisserung: Die Abkehr von der Nuklearwirtschaft ist unumkehrbar. Aber sie wird viel länger dauern, als von den Grünen einst erhofft. Auch deshalb ist die Parteispitze fieberhaft bemüht, einen Antrag zu entschärfen, die Stromproduktion schon bis 2030 zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien sicherzustellen. Nach langem Hin und Her wird eine geschmeidige Formulierung gefunden: Nun wollen sich die Grünen "anstrengen", dieses Ziel zu erreichen. Das Mitregieren ist den meisten Parteigängern wohl doch näher, als mit politischem Fundamentalismus in der Opposition zu versauern.

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