„Mir juckt die Säbelspitze“

Berlin · Am 1. August 1914 erklärt das Deutsche Reich Russland den Krieg – und im Land bricht Jubel aus. Soldaten ziehen begeistert ins Feld. So der Mythos. Forscher haben das patriotische „August-Erlebnis“ längst relativiert.

Siegesgewisse Soldaten winken jubelnd aus den Zügen, die sie an die Front bringen. "Auf in den Kampf, mir juckt die Säbelspitze", haben sie an die Waggons geschrieben. Oder: "Weihnachten sind wir wieder da." Es wird ein schneller Feldzug erwartet. Vor dem Berliner Schloss ruft Kaiser Wilhelm II. zu einer begeisterten Menge: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." Die Glocken läuten, vaterländische Lieder erklingen, Deutschland ist im Sommer 1914 kriegsbegeistert. Doch diese Vorstellung - bis heute im historischen Bewusstsein der Deutschen verankert - ist ein Mythos.

"Längst schon hat die historische Forschung die vermeintliche Kriegsbegeisterung infrage gestellt", schreibt der Historiker Tillmann Bendikowski. Ein alle Bevölkerungsschichten umfassendes "August-Erlebnis", das die Nation bei Kriegsausbruch 1914 einte, habe es so nicht gegeben. "In der historischen Wirklichkeit waren die Reaktionen auf die Kriegsgefahr und den Beginn des Krieges sehr viel komplexer und widersprüchlicher." Das Bild einer rauschhaften, euphorisierenden und alle Schichten vereinenden Kriegsbegeisterung resultiere häufig aus dem Rückblick, schreibt der Historiker Jörn Leonhard. Die Kriegspropaganda tat ihr übriges.

Zwar gab es - vor allem in Großstädten - viele "hurrapatriotische" Versammlungen. Auch ein berühmtes Bild von einer Kundgebung auf dem Münchner Odeonsplatz zeigt jubelnde Menschen. Mitten unter ihnen: der 25-jährige Adolf Hitler. Es gab aber auch, heute beinahe vergessen, massive Proteste: Tausende Menschen nahmen an Antikriegsdemonstrationen der SPD teil. Allerdings vollzieht die SPD-Führung dann, als der Krieg feststeht, eine Kehrtwende: Sie stimmt im Reichstag Kriegskrediten zu - aus einem vaterländischen Pflichtgefühl zur Landesverteidigung heraus. Der berühmte "Burgfrieden" der Parteien ist geboren.

In der Tat wird der Krieg in weiten Teilen Deutschlands als Verteidigungskrieg angesehen. "Man drückt uns das Schwert in die Hand", sagt Kaiser Wilhelm II. in einer Rede vom Balkon des Berliner Schlosses. "Neider überall zwingen uns zur gerechten Verteidigung." Viele junge Deutsche melden sich freiwillig zum Kriegsdienst. Vor allem konservativ-bürgerliche und akademische Kreise rüsten zur "geistigen Mobilmachung". Professoren vergleichen den Feldzug mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon 100 Jahre zuvor. "Wir leben in einem Rausch der Gefühle. Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft", schreibt der Schriftsteller Ernst Toller. Auch er meldet sich freiwillig in den Krieg. Zwei Jahre später erleidet er einen totalen Zusammenbruch und wird zum glühenden Pazifisten und revolutionären Sozialisten.

Vor allem auf dem Land und bei den Arbeitern ist bereits 1914 von breiter Kriegsbegeisterung wenig zu spüren, wie neuere Forschungen zeigen. Es überwiegen die Zukunftssorgen. "Das Volk denkt sehr real, und die Not liegt schwer auf den Menschen", heißt es etwa im Bericht eines Pfarrers über die Stimmung im Berliner Arbeiterbezirk Moabit. Der damals 17-jährige Wilhelm Eildermann, ein überzeugter Sozialdemokrat, kann bei der Mobilmachung alles andere als eine Kriegsbegeisterung ausmachen: "Alle haben das Gefühl: Es geht direkt zur Schlachtbank."

Der Kriegsalltag setzt vielen Deutschen schon nach kurzer Zeit zu. Viele heben in Panik ihre Ersparnisse von den Bankkonten ab und sichern sich aus Angst vor Rationierungen Lebensmittel. Bereits im August herrscht Massenarbeitslosigkeit. Die Lebensmittelpreise steigen, die Armut nimmt zu. Es habe im Sommer 1914 keine dominierende Stimmung gegeben, wie Bendikowski resümiert. "Diese Wochen waren vielmehr von Ambivalenzen geprägt. Zwiespältig und zerrissen waren die Gefühle der Deutschen, widersprüchlich, oft sprunghaft und zuweilen unberechenbar."

An der Front lässt das Grauen des Kriegs viele Soldaten schnell ernüchtern. Vor allem der Stellungskrieg im Westen wird zur sinnlosen Materialschlacht, Millionen Menschen sterben. Ein Student schreibt nach seinen ersten Schlachterfahrungen in sein Tagebuch: "Mit welcher Freude, welcher Lust bin ich hinausgezogen in den Kampf (?) Mit welcher Enttäuschung sitze ich hier, das Grauen im Herzen."

Zum Thema:

HintergrundGedenken in der Region:Bundespräsident Joachim Gauck und der französische Staatschef François Hollande legen am Sonntag auf dem Hartmannsweiler Kopf in den Vogesen den Grundstein für ein deutsch-französisches Geschichtszentrum. An der Erinnerungsstätte "Gëlle Fra" in Luxemburg legen Saar-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer und der luxemburgische Premier Xavier Bettel am Samstag einen Kranz nieder. An der Kriegsgräberstätte Metz-Chambière gedenken Franzosen und Deutsche gemeinsam. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort