"Merkel sollte auf uns zugehen"

Herr Thierse, wie haben Sie den Rücktritt empfunden?Thierse: Ich war überrascht wie alle und erschrocken. Ich halte den Rücktritt auch am Tag danach weder für zwingend noch für ausreichend begründet. Offenbar überwogen bei Horst Köhler die tiefe Enttäuschung über mangelnde Unterstützung und vielleicht auch die Unsicherheit über seine eigene Rolle

Herr Thierse, wie haben Sie den Rücktritt empfunden?Thierse: Ich war überrascht wie alle und erschrocken. Ich halte den Rücktritt auch am Tag danach weder für zwingend noch für ausreichend begründet. Offenbar überwogen bei Horst Köhler die tiefe Enttäuschung über mangelnde Unterstützung und vielleicht auch die Unsicherheit über seine eigene Rolle.Belegt das die These, dass Quereinsteiger in der großen Politik in aller Regel scheitern?Thierse: Es widerstrebt mir, dem zuzustimmen, aber es ist wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.Köhler hatte die Kritik an sich und seinem Amt als Rücktrittsgrund genannt. Auch die SPD hat kräftig ausgeteilt. Trägt Ihre Partei Mitverantwortung für Köhlers Entschluss?Thierse: Nein, wer sich wie Köhler als politischer Präsident verstand und viele politische Bewertungen vornahm, der muss auch politischen Widerspruch ertragen.Köhlers Rücktritt wird auch als Schlag gegen die schwarz-gelbe Regierungskoalition bewertet. Das muss die Opposition doch freuen, oder?Thierse: Ganz sicher ist dieser Rücktritt eine bittere Niederlage für Schwarz-Gelb. Schließlich wurde Köhler vor sechs Jahren von Angela Merkel und Guido Westerwelle bei einem Küchengespräch auf den Schild gehoben. Angesichts des kritischen Zustandes, in dem sich die Regierung, das Land und der Euro befinden, verbietet sich aber Schadenfreude. Köhlers Rücktritt ist leider nur ein weiteres Krisenphänomen.Die Kanzlerin will einen Kandidaten vorschlagen, der von allen demokratischen Parteien akzeptiert wird. Ist das realistisch?Thierse: Im Prinzip verfährt die Kanzlerin nach dem Motto: Wir machen einen Vorschlag, und die anderen, also auch wir, sollen zustimmen. Ich hielte es für vernünftiger, wenn Merkel erst einmal das Gespräch mit der Opposition gesucht hätte, um sich dann auf einen gemeinsamen, möglichst vertrauenswürdigen, möglichst überparteilichen Kandidaten zu verständigen.Aber Schwarz-Gelb hat eine Mehrheit in der Bundesversammlung.Thierse: Angesichts des dramatisch geschwundenen Vertrauens der Bürger gegenüber dieser Regierung sollte eine Kanzlerin fähig sein, auf die anderen zuzugehen.Empfehlen Sie Ihrer Partei, einen eigenen Kandidaten aufzustellen?Thierse: Wenn Frau Merkel einen allzu parteipolitisch geprägten Kandidaten ins Rennen schickt, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als einen eigenen Bewerber zu benennen.Nun werden durchaus schon Kandidaten genannt, die trotz ihres CDU-Parteibuches konsensfähig sein könnten. Gemeint sind Bundestagspräsident Lammert oder Arbeitsministerin von der Leyen.Thierse: Ich will keine Namen kommentieren. Ich sage aber noch einmal, parteipolitisch motivierte Kandidaturen zeugen unter den gegebenen Umständen nicht von sonderlichem Geschick.

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