Merkel auf der Kanzler-Überholspur

Berlin · Heute ist Angela Merkel 3061 Tage im Amt – und damit genauso lange wie Helmut Schmidt. Morgen wird sie ihn überholt haben und damit alle bisherigen SPD-Kanzler. Ein Ende ist noch längst nicht absehbar.

Hätte, hätte, Fahrradkette. Hätte die FDP 1982 nicht abrupt die Koalition gewechselt und Helmut Kohl den amtierenden Kanzler Helmut Schmidt abgelöst, wäre der Sozialdemokrat länger als 3061 Tage im Amt gewesen. Dann könnte ihn Angela Merkel (CDU) am morgigen Donnerstag nicht überholen. Und: Hätte die SPD 2005 nicht mit der Union koaliert, sondern mit Grünen und Liberalen oder Linken ein Bündnis gebildet, was rechnerisch gegangen wäre, dann wäre sie erst gar nicht Kanzlerin geworden. Und 2009 nicht geblieben. Und auch im aktuellen Bundestag gibt es eine linke Mehrheit.

Merkels neuer Rekord hat also mit zufälligen Parteienkonstellationen zu tun. Trotzdem ist er ein Fakt. Die erste Frau und erste Ostdeutsche im Kanzleramt amtiert nun am drittlängsten von allen. Nur noch die CDU-Kanzler Helmut Kohl (5870 Tage) und Konrad Adenauer (5143) schafften mehr. Sie liegt vor den SPD-Größen Helmut Schmidt, Gerhard Schröder und dem legendären Willy Brandt. Sie ist schon jetzt ein wichtiges Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Und ein Ende ist noch ni cht einmal absehbar.

Um Kanzler zu werden, muss man zur richtigen Zeit in der richtigen Partei an der richtigen Position sein. Um es zu bleiben, zumal so lange, braucht man Können. Viel bemerkenswerter als Merkels Dienstzeit ist deshalb nach mehr als acht Jahren ihr hoher Beliebtheitsgrad in der Bevölkerung. Normalerweise sinkt der. Und noch erstaunlicher ist ihre uneingeschränkte Führungsrolle in der Union. Normalerweise erodiert die Macht. Man kann es auch so ausdrücken: Angela Merkel hat aus dem ihr glücklich zugefallenen Amt etwas gemacht. Mehr jedenfalls als alle sozialdemokratischen Vorgänger. Aber wie?

Da ist zuallererst ihre Fähigkeit, komplexe Gruppenprozesse zu moderieren. Und das sind politische Entscheidungen. Paradoxerweise hat sie ihre Richtlinienkompetenz als Kanzlerin dadurch ausgebaut, dass sie sie sehr selten genutzt hat. Nicht Basta, sondern Bitte. Nicht Zampano, sondern zuhören. Nicht auf Risiko, sondern reifen lassen. Heute freilich reicht schon ein Hinweis von ihr in der CDU-Vorstandssitzung, und jeder weiß, wo der Hase hinläuft. "Die Chefin", "Mutti", "die Führung", so nennen sie sie intern. Aber immer noch wartet sie ab, wohin eine Diskussion sich entwickelt, wenn sie sich unsicher ist. Und das ist oft der Fall. Ihre persönliche Stärke ist für das Land auch eine Schwäche. Es fehlt Orientierung.

Der zweite Grund für ihren Erfolg ist eine in der parteifernen Welt ihres Elternhauses und des Physik-Studiums geprägte zutiefst pragmatische Weltsicht. Da ist fast keine Ideologie, weder christlich, noch ökologisch, noch sozial, noch wirtschaftsliberal. Nichts, was die Gesellschaft verändern will. Sondern nur die Suche nach einem vernünftigen Kompromiss, der für die nächste Zeit reicht. Allerdings, gewisse ökonomische Grundüberzeugungen sind vorhanden: Dass man die Zukunft nicht auf Schulden, sondern auf Leistung bauen muss, zum Beispiel. Dass an dieser Leistungsfähigkeit ständig gearbeitet werden muss. Dass die globale Konkurrenz nicht schläft. Den Wohlstand Deutschlands in einem leistungsfähigen Europa sichern, das ist ihre Lebensbotschaft. Es gibt wahrlich Geringeres. Allerdings, sie regiert das Land in einer Phase des wirtschaftlichen Erfolges, den andere vorbereitet haben, allen voran Gerhard Schröder. Das ist also nicht besonders schwer. Der Test, wie sie ankommen würde, wenn die Arbeitslosenzahlen hoch wären, ist nicht gemacht.

Und keine medialen Mätzchen. Die inzwischen 59-Jährige i st ganz natürlich geblieben, das merken die Leute. Wochenendgrundstück in der Uckermark, Rouladen mit Rotkohl, Wandern und höchstens mal Bayreuth. Sie zeigt keine Allüren, umgibt sich nicht mit Macht- oder Geldsymbolen. Keinerlei Skandal, keinerlei Fehltritt. Weil alle anderen früher oder später über solche Sachen gestolpert sind, ist sie jetzt ganz allein da oben in der Union. Einige hat sie auch weggebissen wie Norbert Röttgen. Denn das ist sie bei aller Nettigkeit inzwischen auch geworden: eine überzeugte Parteigängerin, der neben der eigenen Macht das Wohlergehen der CDU über alles geht. Die auch den anderen Parteien nichts gönnt. Ihre wechselnden Koalitionspartner können ganze Choräle darüber singen.

3062 Tage Angela Merkel, das wird allerdings langsam auch zum Problem. Die CDU weiß nämlich nicht, wie man diesen Erfolg ohne sie fortsetzen kann. Soll sie also 2017 noch mal antreten, auf die Gefahr, wie Helmut Kohl zu enden, der seine Amtszeit und die Geduld der Bürger überstrapazierte? Und was wird, wenn sie es nicht macht? Wie und für wen kann man dann die eigene Partei und die Wähler noch mobilisieren? Niemand weiß bisher eine Lösung in der Union. Merkels Macht hat an diesem Punkt inzwischen eine Kehrseite bekommen - Ohnmacht.

Zum Thema:

Auf einen BlickDie Amtszeiten der Bundeskanzler: Helmut Kohl, CDU, 5870 Tage (1982 bis 1998) Konrad Adenauer, CDU, 5143 Tage (1949 bis 1963) Angela Merkel, CDU, seit 3061 Tagen (seit 2005) Helmut Schmidt, SPD, 3061 Tage (1974 bis 1982) Gerhard Schröder, SPD, 2583 Tage (1998 bis 2005) Willy Brandt, SPD, 1659 Tage (1969 bis 1974) Ludwig Erhard, CDU, 1142 Tage (1963 bis 1966) K. Georg Kiesinger, CDU, 1055 Tage (1966 bis 1969)

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