Mehr Hilfe für Europas Sorgenkinder"Man darf in den Bemühungen nicht nachlassen"

Brüssel. Sie sind Europas Sorgenkinder: Rund sechs Millionen junge Menschen brachen im Jahr 2009 die Schule ab - das sind 14,4 Prozent aller 18- bis 24-Jährigen in den 27 Mitgliedstaaten. Heute will die EU-Kommission die Wende einleiten. Innerhalb von zehn Jahren soll die Rate der Unausgebildeten in der Europäischen Union auf unter zehn Prozent gedrückt werden

Brüssel. Sie sind Europas Sorgenkinder: Rund sechs Millionen junge Menschen brachen im Jahr 2009 die Schule ab - das sind 14,4 Prozent aller 18- bis 24-Jährigen in den 27 Mitgliedstaaten. Heute will die EU-Kommission die Wende einleiten. Innerhalb von zehn Jahren soll die Rate der Unausgebildeten in der Europäischen Union auf unter zehn Prozent gedrückt werden.

Wie schwer das wird, zeigen die Zahlen: In Malta (36,8 Prozent), Portugal und Spanien (jeweils 31,2 Prozent) beendet jeder dritte Jugendliche die Schule nicht. Sogar Deutschland liegt mit einer Quote von 11,1 Prozent über dem angestrebten Ziel der EU-Kommission. Am besten stehen derzeit die Slowakei (4,9 Prozent), Slowenien und Polen (jeweils 5,3 Prozent) da. Die Folgen für die Betroffenen sind schwerwiegend. Jeder fünfte EU-Bürger unter 24 Jahren ist zur Zeit arbeitslos, aber mehr als jeder zweite Schulabbrecher (52 Prozent) findet keinen Job.

Das Programm, das die zuständige EU-Kommissarin Androulla Vassiliou (Foto: afp) heute präsentieren wird und das unserem Brüsseler Büro vorliegt, besteht vor allem aus Anregungen, mit denen verschiedene EU-Staaten bereits gute Erfolge gemacht haben. Dazu gehören die frühkindliche Förderung ebenso wie Schulen als "Lern-Communitys" und "Studien-Netzwerke" außerhalb des Unterrichts. Auch offene Schulen wie in Italien und finanzielle Förderungen für bestehende Einrichtungen, die sich der Förderung von Abbrechern verschrieben haben (Niederlande), enthält das Maßnahmenpaket.

Vor allem aber gehe es darum, so heißt es in dem Programm-Papier, den "sozialen Hintergrund der jungen Menschen zu verbessern". Schließlich seien junge Leute aus ärmeren Bevölkerungsschichten besonders betroffen. Gleichzeitig will die Kommission ein Sonderprogramm zur Unterstützung von Heranwachsenden starten, die unter Lese- und Schreibschwäche leiden. Die niederländische Prinzessin Petra Laurentien Brinkhorst soll - ebenfalls in dieser Woche - die Leitung einer hochrangigen Expertengruppe aus EU- und Unesco-Fachleuten übernehmen, um gezielt Fördermöglichkeiten für diese jungen Menschen zusammenzustellen.

Weniger Schulabbrecher - für die EU gehört dies zu den fünf großen Zielen, die man sich in diesem Jahrzehnt vorgenommen hat. Unter dem Motto "Europa 2020" will man außerdem die Zahl derer, die unter der Armutsgrenze leben, von heute 80 Millionen auf höchstens 20 Millionen senken. Gleichzeitig sollen künftig mindestens 75 Prozent der 20- bis 64-Jährigen eine Beschäftigung haben. Derzeit sind es 69 Prozent. Darüber hinaus stehen der Klimaschutz und die Steigerung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf der Wunschliste für 2020.Herr Larbig, warum brechen Jugendliche die Schule ab?

Larbig: Es gibt Jugendliche, die einfach den Abschluss nicht schaffen. Ansonsten sind es meist multiple Problemlagen. Probleme im Elternhaus: Scheidungen, Trennungen, innerfamiliäre Konflikte, Umzugssituationen, neues Umfeld, bis hin zu Drogenproblematik oder Kriminalität. Manchmal liegen auch psychische Probleme vor, Sozialphobien oder Ähnliches. Dann versuchen wir, auch andere Akteure und Spezialisten ins Umfeld einzubinden, also Psychologen oder Therapeuten.

Gibt es auch fachliche Hintergründe?

Larbig: Viele Jugendliche entscheiden sich schlicht für die falsche berufsbildende Schule und bekommen dann Probleme. Es besteht zudem oft ein großes Defizit an Informationen darüber, welche Berufe und Ausbildungen überhaupt existieren und welche Voraussetzungen dort jeweils verlangt werden.

In welchem Alter würden Sie die meisten ihrer Fälle ansiedeln?

Larbig: Die meisten sind zwischen 16 und 19. Wir versuchen, die Jugendlichen neu zu motivieren und beruflich und schulisch neu zu orientieren. Wir begleiten die Schüler dann auf ihrem Weg, damit keine zu langen Pausen entstehen.

Was bedeutet eine Pause in diesem Zusammenhang?

Larbig: Wenn Schüler abbrechen und danach kommt nichts, fallen sie in ein Loch. Sie werden nicht betreut, haben keinen Ansprechpartner. Die Eltern sind oft überfordert. Manchmal ist es sogar unmöglich, die Eltern mit einzubeziehen, weil in diesem Bereich das Problem liegt.

Wie hoch ist die Erfolgsquote?

Larbig: Die Quote ist ziemlich hoch, insbesondere bei den Leuten, die einfach den falschen Weg gewählt haben. Wenn ihnen andere Ausbildungsmöglichkeiten, andere Schulen aufgezeigt werden, die ihren Interessen und Neigungen eher entsprechen, klappt das gut. Dann können sie sich neu bewähren und sind neu motiviert.

Bringt es etwas, Druck auf Schulabbrecher auszuüben und sie so an ihrer Ehre zu packen?

Larbig: Ich muss die Situation des Jugendlichen verstehen. Warum handelt er so? Das ist der wesentliche Ausgangspunkt. Dann werden mit ihm gemeinsam Lösungen erarbeitet. Ich kann ihm beispielsweise nicht sagen: Du versaust Dir gerade Dein Leben und jetzt musst Du aber ganz schnell die Kurve kriegen. Mit diesem Druck funktioniert das nicht.

Die Zahl der Schulabbrecher ist stark rückläufig. Wo sehen Sie Gründe dafür?

Larbig: Die Projekte wie die Kompetenzagentur oder die "Zweite Chance" funktionieren. Wir erreichen über die Jahre viele Jugendliche, es kommt zu positiven Veränderungen. Man darf aber in diesen Bemühungen nicht nachlassen. Es ist paradox: Die Arbeit dieser Institutionen wird Jahr für Jahr gelobt. Und doch stehen diese Projekte immer wieder zur Disposition.

Meinung

Blick über

den Tellerrand

Von SZ-Korrespondent

Detlef Drewes

Auch wenn der Einsatz der Kommission zugunsten von Schulabbrechern wohl eher ein Symbol denn ein konkretes Programm ist, bleibt er wichtig. Diese Union erweckt nämlich häufig eher den Eindruck, nur ein Markt für Kapital und Unternehmen zu sein, ohne jede menschliche Komponente. Dabei enthält die Strategie "Europa 2020" tatsächlich vorrangig soziale Ziele, die untrennbar miteinander verbunden sind. Die Unterstützung für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten ist ohne Hilfe für Familien aus ärmeren Bevölkerungsschichten nicht denkbar. Der Einsatz gegen Arbeitslosigkeit wiederum braucht Bildungsinitiativen, weil Menschen ohne Ausbildung als erstes auf der Straße stehen.

Aber auch wenn es sich vorrangig um ein Bewusstmachen des Problems handeln sollte, wäre es falsch, den Vorstoß aus Brüssel zu übergehen. Natürlich arbeiten die Fachleute in Deutschland längst daran, Modelle zu entwickeln, um Schulabbrecher wieder aufzufangen. Aber der Blick über den Tellerrand kann helfen, neue Wege zu entdecken.

Hintergrund

Im Saarland ist die Schulabbrecher-Quote in den vergangenen zehn Jahren stark rückläufig. Zu dieser Tendenz tragen nach Auskunft des Bildungsministeriums vor allem präventive Maßnahmen bei: 2004 wurden sowohl das Bildungsprogramm für Kindergärten als auch das Sprachförderprogramm "Früh Deutsch lernen" für Kindergarten- und Grundschulkinder, insbesondere mit Migrationshintergrund, eingeführt.

Seit 2007 werden Schülerinnen und Schüler in "Reformklassen" gefördert. Lag die Zahl derjenigen, die durch die Prüfung zum Hauptschulabschluss fallen, zuvor im Schnitt bei 14 pro Jahr, fielen seit 2007 insgesamt nur zwei Schüler aus den Reformklassen durch die Prüfung. In sogenannte "Werkstatt-Schulen" wechseln Schüler von Erweiterten Realschulen und Gesamtschulen nach acht Schulpflichtjahren, wenn ein erfolgreicher Abschluss nicht mehr möglich scheint. spr

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