"Manchmal wird Unerwartetes Wirklichkeit"

Herr Gauck, während Ihrer Vorstellungsreise durch die Republik kam es zu einem tragischen Verkehrsunfall, bei dem ein Radfahrer schwer verletzt wurde. Hat das Ihre Seelenlage verändert? Gauck: Jeder Mensch wird nachdenklicher, wenn er neben jemandem steht, der mit dem Leben ringt

Herr Gauck, während Ihrer Vorstellungsreise durch die Republik kam es zu einem tragischen Verkehrsunfall, bei dem ein Radfahrer schwer verletzt wurde. Hat das Ihre Seelenlage verändert? Gauck: Jeder Mensch wird nachdenklicher, wenn er neben jemandem steht, der mit dem Leben ringt. Der Unfall ging mir nahe, und ich bin sehr froh, dass der junge Radfahrer gute Chancen hat, wieder vollständig zu gesunden.Im Regierungslager wächst die Zuversicht, dass bis auf ein paar wenige Abtrünnige keiner für Sie stimmen wird. Glauben Sie immer noch an einen Sieg? Gauck: Natürlich kann ich rechnen. Von daher habe ich zunächst auch nicht die Erwartung, als erster über die Ziellinie zu gehen.Was ist es dann? Gauck: Mein Leben hat mich gelehrt, dass manchmal Unerwartetes Wirklichkeit wird. Insofern bin ich da ganz gelassen.Für ein solches Wunder brauchen Sie auch die Stimmen der Linken. Aber die halten Sie für nicht wählbar. Gauck: Ich kann, ich will mich nicht verbiegen, um auch noch den letzten aus der Linkspartei zu gewinnen. Dafür bin ich nicht zu haben.Am morgigen Dienstag sind Sie in der Linksfraktion zu Gast. Was werden Sie dort sagen? Gauck: Wenn es interessiert, werde ich über meine Vorstellungen von einer solidarischen Gesellschaft sprechen, meine Sicht auf die soziale Marktwirtschaft und den Rechtsstaat erläutern. Und ich werde davon reden, wozu uns auch heute die Freiheitsliebe ermutigt, die vor zwanzig Jahren die Menschen in Ostdeutschland mit dem Satz "Wir sind das Volk" auf die Straßen brachte. Aber man wird mir dort möglicherweise auch andere Fragen stellen.Zum Beispiel die nach angeblichen Privilegien, die Sie nach Ansicht einiger Linker als Pfarrer in der DDR gehaben haben sollen? Gauck: Das ist ein trauriger, ein empörender Umgang mit der Wahrheit. Meine Kinder durften weder Abitur machen, noch studieren. So ging dieser Staat damals mit den Zukunftswünschen meiner Familie um. Meine Söhne mussten außer Landes gehen, um die Berufe erlernen zu können, die sie heute ausüben. Wenn jetzt die verwöhnten Kinder der roten Bourgeoisie von einst so über mich urteilen, dann ist dies erbärmlich und hat mit politischer Aufklärung nichts zu tun.Warum gehen Sie dann überhaupt noch zu den Linken hin? Gauck: Ich habe eine höfliche Einladung von Gregor Gysi bekommen. Da will ich nicht ausschließen, dass ein wirkliches Interesse am Gedankenaustausch besteht. Nach meiner Erfahrung sind viele Jüngere in der Linkspartei weniger voreingenommen als die Älteren.Sie finden den Bundeswehreinsatz in Afghanistan richtig, was den Linken auch nicht schmeckt. Aber wann soll dieser Einsatz denn Ihrer Meinung nach enden? Gauck: Um es klar zu sagen, ich finde den Einsatz nicht gut, aber erträglich und gerechtfertigt. Und es ist schon sehr merkwürdig, dass eine politische Richtung, die jahrzehntelang den bewaffneten Befreiungskampf in Afrika und anderswo bejubelt hat, nun einen Radikalpazifismus pflegt. Das ist ein taktischer, aber kein ethischer Pazifismus.Das beantwortet nicht die Frage. Gauck: Ich werde mir jetzt nicht anmaßen, hier den Politikern und Militärs, die sich um eine Ausstiegsstrategie bemühen, Ratschläge zu erteilen. Die Bundeswehr ist im Auftrag der Uno in Afghanistan. Nicht, um dort Land zu erobern, sondern um Menschen vor Terror zu schützen. Schon deshalb ist eine Gleichsetzung mit den Kriegen der Vergangenheit politisch falsch und moralisch verwerflich.Viele Menschen empfinden das Sparpaket als sozial ungerecht. Sie auch? Gauck: Ja, ich habe damit Probleme. Wenn gespart werden muss, sollen alle Gruppen der Bevölkerung je nach ihren Möglichkeiten die Lasten tragen. Dass reichere Menschen dann auch einen größeren Anteil beitragen, ist naheliegend, und viele von ihnen sind ja dazu auch bereit. Wenn den Menschen mit den geringsten Einkünften der Heizkostenzuschuss gestrichen wird, aber die oben gar nichts spüren, dann stimmt etwas nicht.Horst Köhler hatte zum Beispiel Afrika als sein Schwerpunktfeld betrachtet. Welches würden Sie beackern wollen? Gauck: Wenn dieser Fall wirklich eintreten sollte, wäre mir die Ermutigung der Menschen zur Mitgestaltung ein besonderes Anliegen. Angst macht kleine Augen, und Furcht kann lähmen. Als Autor und Vortragsreisender spreche ich häufig darüber, dass die Probleme nicht wie ein unabwendbares Schicksal vor uns stehen. Wir haben die Phantasie und die Kraft, den Krisen zu begegnen.Das klingt ziemlich abstrakt. Gauck: Nein, das ist ein ganz konkreter Aufruf, Verantwortung zu übernehmen - für das eigene Schicksal, aber auch für das Gemeinwesen. Ich will nicht in einem Land leben, in dem sich immer mehr Menschen von der Ebene des politischen Handelns entfernen und ihre Erfüllung nur noch im Konsum sehen. Diese Haltung ist für mich Ohnmacht ohne Diktatur. Und dagegen möchte ich etwas unternehmen.Ihr Vorschlag? Gauck: Eine Möglichkeit sind mehr Volksabstimmungen insbesondere auf der Ebene der Bundesländer und Kommunen. Denn seit langem wird darüber debattiert, wie der Bevölkerung ihre Demokratie näher gebracht werden kann. Und wir brauchen eine deutliche Ermutigung zum Engagement in Parteien wie auch in Ehrenämtern.Sollte der Bundespräsident direkt vom Volk gewählt werden? Gauck: Da spricht manches dafür. Aber das klingt jetzt billig, weil ich mich auf einer Welle unerwarteter Zustimmung befinde. Die Frage müssen Fachleute wie beispielsweise Verfassungsrechtler besprechen, und dann wünsche ich mir eine breite Debatte. Einen Bundespräsidenten als Zweitregierung will ich nicht. Wir könnten auch nach Österreich schauen. Dort hat der Bundespräsident keine Exekutivbefugnisse und wird trotzdem vom Volk gewählt. Da liegen ja Erfahrungen vor, die wir auswerten könnten. SPD und Grüne geben vor, mit Ihrer Nominierung die Parteipolitik aus dem Präsidentenamt zurückdrängen zu wollen. Glauben Sie das? Gauck: Sie meinen, ob ich von beiden Parteien benutzt werde? Natürlich kann ich auch ein taktisches Kalkül erkennen. Aber die Frage ist doch, ob sich meine Kandidatur in diesem Kalkül erschöpft, oder ein Angebot an die ganze Gesellschaft ist. Ich habe mich geprüft und bin zu dem Entschluss gekommen, dass dieses Angebot möglich ist. Und die letzten Wochen, die Resonanz vieler Menschen auf meine Kandidatur haben mich darin bestärkt.

Am RandeDie Freien Wähler bleiben bei ihrer Präferenz für den rot-grünen Bundespräsidentenkandidaten Joachim Gauck. Auch nach dem Treffen mit dem schwarz-gelben Kandidaten Christian Wulff (CDU) werde eine deutliche Mehrheit der Wahlleute Gauck wählen, sagte der Vorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger.Die Linke will nach Angaben von Parteichefin Gesine Lötzsch auch in einem zweiten und dritten Wahlgang nicht für Gauck stimmen. "Für die Linke steht fest: Gauck ist nicht unser Kandidat, und es gibt nichts, was uns vom ersten zum dritten Wahlgang so verändern könnte." ddp

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