"Man muss der Trauer ein Stück Raum lassen"

Ensdorf. Schon vor der Einfahrt ins Bergwerk verändert sich die eigene Befindlichkeit innerhalb von Sekunden. Aufziehen des Helms, Anlegen der Grubenlampe und der Ausrüstung. Man spürt selbst die Belastungen vor einer Schicht. Respekt vor der Leistung dieser Menschen. Denn ein Bergmann wird nach kompletter Einkleidung um bis zu zehn Kilo schwerer

 Ein einmaliger Ort für die wöchentliche Tagung des Ministerrates der Landesregierung: die Sohle 24 in 1712 Metern Tiefe im Bergwerk Saar. Fotos: Oliver Dietze

Ein einmaliger Ort für die wöchentliche Tagung des Ministerrates der Landesregierung: die Sohle 24 in 1712 Metern Tiefe im Bergwerk Saar. Fotos: Oliver Dietze

Ensdorf. Schon vor der Einfahrt ins Bergwerk verändert sich die eigene Befindlichkeit innerhalb von Sekunden. Aufziehen des Helms, Anlegen der Grubenlampe und der Ausrüstung. Man spürt selbst die Belastungen vor einer Schicht. Respekt vor der Leistung dieser Menschen. Denn ein Bergmann wird nach kompletter Einkleidung um bis zu zehn Kilo schwerer. Sofort macht sich in der Kleidung aufsteigende Hitze bemerkbar. Und dabei ist man noch nicht einmal auf der 24. Sohle in 1712 Meter Tiefe im Bergwerk Saar angekommen, dem tiefsten zugänglichen Punkt in ganz Europa, wie Bergwerksdirektor Friedrich Breinig an diesem besonderen Tag betont.Ein Tag, der den Journalisten etwas bietet, was sich so niemals mehr wiederholen wird. Denn die gesamte saarländische Landesregierung hat sich unter Tage zu ihrer wöchentlichen Kabinettsitzung versammelt. Um, wie es Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) später sagen wird, Respekt zu erweisen vor der Lebensleistung der Bergleute, die das Land so stark geprägt hätten wie nichts anderes. Gleichzeitig wolle man mit konkreten Kabinetts-Beschlüssen Zeichen für die Zukunft setzen. Unter anderem mit Details zur künftigen Nutzung der Bergbauflächen. Nur die Staatssekretäre fehlen. Sie durften nicht mit unter Tage fahren, damit die Regierung auch im Falle eines Zwischenfalls jederzeit handlungsfähig bleibt. Als die Journalisten nach siebenminütiger Seilfahrt auf der 24. Sohle ankommen, blicken sie zunächst in ein Meer von Grubenlampen. Die Augen brauchen etwas, um sich an die geänderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ganz allmählich kann man auch die zur Lampe gehörenden Personen identifizieren. Zumal man die in solcher "Arbeitskleidung" sonst nie antrifft. Die zudem unter ihrer ungewohnten optischen Aufmachung plötzlich alle fast gleich aussehen. Ist das nicht Heiko Maas, der da direkt gegenüber "der Chefin" sitzt? Stimmt. Jeder kann sich sofort auch selbst von der Kabinettsdisziplin in den Sitzungen überzeugen, die sonst ohne Öffentlichkeit ablaufen. So stellt man sich auch eine "Zeugniskonferenz" im Lehrerzimmer vor. Alle sitzen brav da, einer spricht. Selbst bei der Einrichtung der üblichen Konferenzatmosphäre wurde nichts versäumt: Kaffee, Sprudel und Säfte auf den Tischen inklusive Laptops (ohne Internet-Empfang) sowie Beamer und Leinwand, um jederzeit etwas erläutern zu können. Der optische Hintergrund der Ministerrunde gibt ebenfalls den Blick auf etwas Spannendes frei: eine bereits getätigte Millioneninvestition. Hier sollten Züge mit Bergleuten und Material direkt in die Primsmulde abfahren. Auch die Gleise liegen schon. Doch hier wird niemals mehr etwas verladen werden oder abfahren.

Einer, der die Journalisten auf Sohle 24 begleitet, ist Hans-Jürgen Becker, der Betriebsratschef des Bergwerks. Nach dem Grubenunglück in der Primsmulde, das das Ende des Bergwerks einläutete, musste er viele Tage und Nächte hindurch "seine Leute" beruhigen: die Bergleute und Familien, die Angst hatten vor dem Fall ins Bergfreie, vor dem Nichts. Der riesige Kraftakt von Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und dem Unternehmen RAG selbst, um einen sozialverträglichen Auslaufbergbau an der Saar zu gewährleisten. Dieser Kraftakt war mit die größte Herausforderung aller Zeiten in der Region. Und er gelang. Dennoch zeigt sich Becker, wie viele seiner Kollegen, sehr verbittert vor dem sich mit riesigem Tempo nähernden Aus. Die Folgen reichen bis in die Familien der Politiker hinein. Bis in die Familie der Ministerpräsidentin. Sie habe den Beschluss ihres Amtsvorgängers Peter Müller am Ende mitgetragen, sagt sie. Obwohl das Ganze auch für sie selbst bitter sei. "Mein Mann hat bis vor kurzem hier gearbeitet. Und mein Bruder arbeitet auch im Bergbau." Eine überzeugende Alternative habe es aber nach dem Grubenbeben nicht mehr gegeben. Jetzt, da die letzten Arbeiten unter Tage immer näher rücken, gelte es für alle im Land, den Respekt vor den Bergleuten zu bewahren. "Man muss der Trauer ein Stück Raum lassen. Aber man darf auch in der Trauer nicht verharren. Es wird weitergehen im Saarland." Nachdenkliche Worte findet auch der Wirtschaftsminister. Und erinnert noch mal an eines seiner eindringlichsten Erlebnisse: "Ich werde die Blicke der Ungewissheit in den Augen der Bergleute und ihrer Familien bei der Mettenschicht nach dem Grubenunglück in der Primsmulde niemals mehr vergessen." Was bleibt, seien die Tugenden der Bergleute: Aufrichtigkeit, Fleiß, Zusammenhalt. Wirtschaftlich habe das Saarland gute Voraussetzungen, um die "Zeitenwende" zu schaffen. Dann beschleicht auf einmal alle ein seltsames Gefühl. Heiko Maas bringt es mit einem Satz für sich selbst auf den Punkt: "Ich werde hier nie mehr herkommen und zum letzten Mal unter Tage sein."

Als alle später ihre "Arbeitskleidung" abgeben, fällt am Eingang des Bergwerks eine lebensgroße Figur auf: die Nachbildung der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute. Umgeben auch an diesem Tag von frischen Blumen. Kein Zweifel: Die Bergleute werden ihr Erbe in Ehren halten. Auch über den letzten Tag des Saar-Bergbaus hinaus. "Ich werde hier nie mehr herkommen

und zum letzten Mal unter Tage sein."

Wirtschaftsminister

Heiko Maas (SPD)

Hintergrund

Arbeiten unter Tage: "die Chefin" und ihr Minister. Beide versichern, dass das Land auch nach dem Bergbau-Ende eine gute Zukunft hat.

Arbeiten unter Tage: "die Chefin" und ihr Minister. Beide versichern, dass das Land auch nach dem Bergbau-Ende eine gute Zukunft hat.

Zahlreiche Formen des Gedenkens an den Saar-Bergbau wird es auch nach dem offiziellen Ende der Kohleförderung am 30. Juni 2012 geben. So sei die Finanzierung des großen Denkmals gesichert, das auf der Bergehalde Ensdorf erreichtet werden soll, sagte Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer. Am 23. September 2012 werde es einen Tag des Bergbaus geben mit einem Fest und einer großen Bergparade unter Teilnahme zahlreicher Traditionsvereine. Auch eine Barbarafeier am 4. Dezember soll es weiter geben, möglicherweise in anderer Form. Sie soll von einem Energiekongress mit Fachleuten begleitet werden. ts

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