Mammon und Maloche statt Muße

Karlsruhe. Verfassungsrichter stützen sich gern auf alte Rechtstraditionen - doch dass man es mit einem mehr als 2500 alten Rechtssatz zu tun hat, ist auch im höchsten deutschen Gericht die Ausnahme: "Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen; selbst zur Zeit des Pflügens und des Erntens sollst du ruhen", heißt es in der Bibel, 2. Buch Mose 34,21

Karlsruhe. Verfassungsrichter stützen sich gern auf alte Rechtstraditionen - doch dass man es mit einem mehr als 2500 alten Rechtssatz zu tun hat, ist auch im höchsten deutschen Gericht die Ausnahme: "Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen; selbst zur Zeit des Pflügens und des Erntens sollst du ruhen", heißt es in der Bibel, 2. Buch Mose 34,21. Ein Satz, der den Karlsruher Richtern präsent sein dürfte, wenn sie morgen über eine Klage der Kirchen gegen die großzügigen Berliner Sonntags-Öffnungszeiten verhandeln. An zehn Sonn- und Feiertagen pro Jahr dürfen die Einzelhändler in Berlin ihre Läden öffnen, darunter alle vier Adventssonntage. Damit ist die Hauptstadt Spitzenreiter in Sachen Sonntagsöffnung, die seit der Föderalismusreform von 2006 den Bundesländern überlassen ist; die meisten Länder geben nur vier Sonntage frei. Dagegen haben die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg und das Erzbistum Berlin vor zwei Jahren Verfassungsbeschwerde erhoben. Ein Urteil wird frühestens einige Wochen nach der Anhörung verkündet. Die Kirchen sehen den christlichen "Urfeiertag" bedroht. Dass nunmehr ein Fünftel der Sonntage zur Disposition stehen soll, sei ein "kulturelles Unglück", kritisierte Bischof Wolfgang Huber seinerzeit. Die Klage muss sich nicht mit dem 2. Buch Mose behelfen - beim Schutz des Sonntags wird das sonst eher abstrakte Grundgesetz konkret: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt", heißt es im aus der Weimarer Verfassung übernommenen Artikel 139. Zwar hat der Gesetzgeber einen gewissen Spielraum. "Ein Kernbestand an Sonn- und Feiertagsruhe aber ist unantastbar", urteilte das Bundesverfassungsgericht 2004. Nun mag die Kirchen besonders geärgert haben, dass ausgerechnet die sensiblen Adventssonntage dem Kommerz geopfert werden sollten, wenngleich mit einer gottesdienst-schonenden Öffnungszeit ab 13 Uhr. Doch es geht nicht nur um Kirchgang und Religion. Auf dem Spiel steht der letzte gemeinsame freie Tag, ein Tag für Familie und Freunde, für organisierten Freizeitstress oder spontane Verabredungen. Der letzte gemeinsame freie Tag? Annähernd elf von gut 38 Millionen Erwerbstätigen arbeiten bereits sonntags, davon fast die Hälfte regelmäßig oder sogar ständig. Tendenz steigend: Seit Anfang der 90er Jahre hat die Sonntagsarbeit um mehr als vier Prozent zugenommen. Die neue Freiheit der Länder, selbst über den Ladenschluss zu bestimmen, könnte den Trend verstärken. Denn seit 50 Jahren werden die Öffnungszeiten unablässig ausgeweitet: 1957 kam der "lange Samstag", 1989 der "Dienstleistungsabend", 1996 die Öffnung bis 20 Uhr - die seit 2003 auch samstags gilt. Dass das Ende des freien Sonntags ein kulturelles Unglück wäre, meinen deshalb auch die Gewerkschaften. "Wir bestreiten die gesellschaftliche Notwendigkeit für Sonntagsarbeit im Handel", sagt Ulrich Dalibor von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. 70 Prozent der Angestellten im Einzelhandel seien Frauen - die häufig die Doppelbelastung von Beruf und Familie zu schultern hätten. "Mit noch mehr Sonntagsarbeit macht man es ihnen schwierig bis unmöglich, sich gesellschaftlich zu engagieren." Umfragen bei Verdi haben ergeben, dass sich Arbeitnehmer am Sonntag lieber der Familie und der Erholung widmen als dem Job - trotz der häufig gezahlten Sonntagszuschläge. Untersuchungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung belegen diese Abneigung: Zwei Drittel würden die Arbeit am Wochenende gern reduzieren. "Wenn die Menschen wählen könnten, wann sie arbeiten, wären Fabriken und Geschäfte am Sonntag deutlich leerer", sagt der WSI-Arbeitszeitforscher Hartmut Seifert. Allerdings lauert hier ein Widerspruch - die Leute wollen sonntags zwar nicht arbeiten, aber einkaufen. Wenn das Shoppen beim konsumgewohnten Menschen des 21. Jahrhunderts zur "seelischen Erhebung" gehört, sollte Karlsruhe dann mit dem geheiligten Tag nicht etwas lockerer umgehen? Als die Verfassungsrichter vor fünf Jahren eine Kaufhof-Klage auf Ausweitung der Sonntagsöffnung abschmetterten, haben sie dazu eine feinsinnige Unterscheidung getroffen. Arbeit "für den Sonntag" ist erlaubt, Arbeit "trotz des Sonntags" soll die Ausnahme bleiben. Soll heißen: Was der Freizeitgestaltung dient, ist eher zulässig als Arbeit, die sich wochentags genauso gut erledigen lässt. "Sonntägliche Vergnügungen werden nicht unterdrückt, selbst dann nicht, wenn die Veranstalter gewerblich handeln", befand das Gericht. Bleibt also die Frage: Gehört Shoppen zum Sonntagsvergnügen?

StichwortDer in der Bibel genannte siebte Tag ist eigentlich der Sabbat, der heute noch von Juden am Samstag gefeiert wird. Im Christentum wurde er als Ruhetag schon früh vom Sonntag abgelöst. Der Name stammt möglicherweise aus einer früheren Anlehnung an den Sonnenkult und wurde von der Kirche in die christliche Überlieferung eingepasst - am ersten Schöpfungstag wurde das Licht geschaffen. Der römische Kaiser Konstantin erhob ihn erstmals im Jahr 321 zum Ruhetag, um den Sklaven die Teilnahme am Gottesdienst zu ermöglichen. Schon damals galten Ausnahmen für Landwirte. Im 19. Jahrhundert kämpften die Gewerkschaften um den Schutz des Sonntags; 1895 wurde die Sonntagsarbeit von Arbeitern, 1919 auch von Angestellten verboten. dpaHintergrundIm Saarland dürfen die Händler wie in den meisten Bundesländern an vier Sonntagen im Jahr öffnen. In Baden-Württemberg sind es nur drei, in Brandenburg sechs. An Wochentagen dürfen Geschäfte im Saarland zwischen sechs und 20 Uhr geöffnet sein. In Rheinland-Pfalz ist erst um 22 Uhr Schluss.Diese Regelungen sind der Saar-FDP zu starr. Sie forderte vergangene Woche im Landtag die Aufhebung des Ladenschlusses an Werktagen. Außerdem sollen Videotheken und Autowasch-Anlagen auch sonntags offen sein. red

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