Machtkampf um Brüssel

Brüssel · Das Gerangel um Jean-Claude Juncker als möglicher EU-Kommissionspräsident ist zu einem Machtkampf geworden. Das Europäische Parlament droht den Staats- und Regierungschefs einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Als Jean-Claude Juncker vor einigen Tagen aus dem Fenster seines Hauses schaute, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Selbst in den Bäumen des Vorgartens saßen britische Fotografen, um den Mann abzulichten, der auf der Insel zu einem Feindbild aufgebaut worden war. Der 59-jährige frühere luxemburgische Ministerpräsident und Chef der Euro-Gruppe hat einen Feind, der nicht mehr nur sein Gegner ist: David Cameron (47), britischer Premier. Der Sieger der Europawahl und Spitzenkandidat der Konservativen sei ein "Gesicht der 80er Jahre", hatte Cameron beim Gipfeltreffen in Brüssel getobt. Doch der Brite hat die Lage unmittelbar nach der Europawahl unterschätzt.

Nicht nur sozialdemokratische Staats- und Regierungschefs wie der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann positionierten sich plötzlich klar für den Luxemburger aus dem anderen Lager. Sogar der Spitzenkandidat der Linken, der griechische Syriza-Chef Alexis Tsirpas, trat für die Wahl des Luxemburgers ein, weil er die Macht des EU-Gipfels aushebeln will. Das gilt auch für den einstigen Gegner Junckers im Wahlkampf, den bisherigen Parlamentspräsidenten Martin Schulz, der in dieser Woche unmissverständlich sagte: "Das ist nicht die Zeit für Parteipolitik. Der Wahlkampf ist beendet." Dies stimmt, doch der Machtkampf um Brüssel ist erst jetzt so richtig entbrannt. "Wir schreiben in diesen Tagen Verfassungsgeschichte", analysierte der außenpolitische Experte der konservativen EVP-Fraktion und europapolitische Berater von Kanzlerin Angela Merkel, Elmar Brok, in dieser Woche. Seine Ansicht teilen viele.

Die 751 Volksvertreter proben den Aufstand, weil sie im schwammig formulierten Lissabonner Vertrag ihr Recht auf das letzte Wort in Gefahr sehen. Ihnen gegenüber stehen die 28 Staats- und Regierungschefs, denen der Vertrag von 2009 das Vorschlagsrecht einräumt. Doch was nützt das, wenn das Parlament nicht wählen will, wen die Chefs vorschlagen. Und dabei geht es nicht nur um Juncker, sondern eben auch um Schulz. Wenn in wenigen Tagen die Sozialdemokraten ihren Fraktionschef wählen, dürfte Schulz auf den Posten zurückkehren, den er aufgegeben hat, als er vor zweieinhalb Jahren zum Parlamentspräsidenten gewählt wurde. Doch es handelt sich dabei wohl nur um eine "Parkposition", wie es ein Genosse süffisant formulierte. Schulz will mehr, die Sozialdemokraten auch, inzwischen wohl auch die Kanzlerin, die bei SPD-Chef Sigmar Gabriel im Wort steht: Schulz könnte als deutscher EU-Kommissar und Vizepräsident in der nächsten Kommission ein besonders starkes Ressort übernehmen, wird kolportiert. Dass Schulz eine Hausmacht im Plenum hätte, steht fest. Deshalb wirbt er so massiv für Juncker, weil er damit eine große Koalition in Europa mit einer stabilen Mehrheit zimmern würde, die ihm selbst nützt. Wenn die Sozialdemokraten Juncker mitwählen, müssten die Konservativen Schulz ins Amt heben.

K ein Wunder, dass in den Restaurants rund um das Brüsseler Europäische Parlament in diesen Tagen die Hinterzimmer ausgebucht sind. Da sitzen die Christdemokraten mit den Liberalen zusammen, die Grünen mit den Sozialisten. Die Rechten suchen den Kontakt mit den EU-Kritikern und alle buhlen um die noch fraktionslosen Abgeordneten, von denen allein Deutschland sieben aus kleineren Parteien entsendet. Inzwischen hat EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy in die Gespräche eingegriffen.

Längst geht es in Brüssel also nicht mehr nur um die Besetzung des wohl wichtigsten Amtes, das die Union zu vergeben hat. Das Parlament hat sich jedenfalls aufgemacht, den Staats- und Regierungschefs die Stirn zu bieten. Wenn man Mitte Juli in Straßburg tagt, soll Juncker gewählt werden, heißt es quer durch die großen Fraktionen.

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