Linke fordert radikalen Politikwechsel in Europa

Essen. Die Frau mit dem grau melierten Haar wollte gar nicht zum Europaprogramm sprechen. Jolanda Putz, mit 77 Jahren älteste Delegierte, drängelte sich am Samstag gleich zu Beginn des Linken-Parteitags in Essen aus einem anderen Grund ans Mikrofon

Essen. Die Frau mit dem grau melierten Haar wollte gar nicht zum Europaprogramm sprechen. Jolanda Putz, mit 77 Jahren älteste Delegierte, drängelte sich am Samstag gleich zu Beginn des Linken-Parteitags in Essen aus einem anderen Grund ans Mikrofon. Die Bayerin wollte früh ihrem Ärger über die Kandidatenvorschläge des Bundesausschusses für die Europawahlliste Luft machen, über die in der Nacht abgestimmt werden sollte. "Gut regional abgewogen - und langweilig!", schimpfte sie. Keiner der Kandidaten habe in seiner Bewerbung an den Parteitag unverwechselbares Profil gezeigt. Sie forderte: "Wir müssen radikaler werden in der Ausdrucksweise!"

Radikaler? Die Linke wirft in ihrem am Wochenende einhellig beschlossenen Programm für die Europawahl am 7. Juni EU-Mitgliedstaaten pauschal vor, Militäreinsätze als Mittel der Politik zu missbrauchen. Sie reagierten damit auf die Konsequenzen ihrer "auf Ausbeutung, unfairen Handelsbeziehungen und Umweltzerstörung beruhenden Wirtschaftspolitik". Die Linke klagt gegen den EU-Reformvertrag von Lissabon, weil dieser "das Demokratieprinzip und die Rechte von Abgeordneten verletzt". Die EU-Erweiterung sei zu "üblem Lohn-, Steuer- und Sozialdumping missbraucht" worden. Die Nato solle aufgelöst, Rüstungsexport generell verboten werden.

Während die Linke ihre vielen Vorschläge für einen radikalen Politikwechsel in der Europäischen Union als proeuropäisches Signal verstanden wissen will, ist das für die anderen Parteien alles europafeindlich und die Linke damit im Bund nicht regierungsfähig. Scharfe Kritik übte der EU-Abgeordnete Jo Leinen (SPD). Mit ihrem Essener Parteitagsbeschluss gegen den neuen Reformvertrag begebe sich Die Linke in das europapolitische Abseits und zudem in schlechte Gesellschaft. Nur Kommunisten und Nationalisten überall in der EU würden versuchen, mit populistischen Parolen den Reformvertrag zu verhindern, sagte Leinen.

Das ficht Linke-Politiker wie den Bundestagsabgeordnete Wolfgang Gehrcke nicht an. Wenn die Linke ihr Nein zu EU-Vertrag und Nato aufgebe, nur um als europafreundlich und regierungsfähig zu gelten, könne sie sich gleich auflösen: "Denn solche Parteien gibt es genug." Viele Linke-Mitglieder ziehen ohnehin die Opposition einer Regierungsbeteiligung vor.

Anders Parteichef Oskar Lafontaine. Er meint zwar, dass die Linke schon jetzt "aus der Opposition heraus regiert", weil sie die anderen Parteien mit Forderungen wie nach Mindestlöhnen oder Verstaatlichung von Banken vor sich hergetrieben habe. Aber letztendlich dürfte der einstige SPD-Chef es da ausnahmsweise mit dem inzwischen eher verhassten heutigen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering halten: "Opposition ist Mist."

Lafontaine spekuliert darauf, dass seine Partei am Ende des Superwahljahres 2009 eine in der Bundesrepublik noch nie da gewesene Macht von links verkörpern wird: Bei den Landtagswahlen im Saarland, Thüringen, Sachsen und Brandenburg könnte sie so stark werden, dass die SPD über rot-rote Bündnisse nachdenken müsste, um sich nicht in eine "Gefangenschaft" als dauerhafter kleiner Partner der Union zu begeben. Die Partei hat aber ein internes Problem. In Essen wurde deutlich, dass sie knapp zwei Jahre nach der Fusion der ostdeutschen Linkspartei und der westdeutschen WASG noch nicht zusammengewachsen ist. Lafontaine sah sich vor den Wahlen der Bewerber für die Europaliste genötigt, für die Vorschläge des Bundesausschusses zu werben: "Die Liste hat eine Bedeutung, weil sie den Zusammenhalt weiter befördern soll. Es wäre nicht gut, wenn ein Ost-Kandidat einen West-Kandidaten von der Liste fegt." Die wohl wegen ihres proeuropäischen Kurses nicht nominierte EU-Abgeordnete und einstige PDS-Vize Sylvia-Yvonne Kaufmann sagte dazu: "Ich habe es satt: Ost gegen West - wir sind eine Partei." Sie stellte sich Kampfkandidaturen um aussichtsreiche Plätze und verlor wie auch der EU-Abgeordnete André Brie (Foto: dpa). Brie sieht darin einen Ausdruck der Europa-Skepsis seiner Partei, wie er unserer Zeitung sagte. Spitzenkandidat wird erwartungsgemäß Lothar Bisky.

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