"Liebe ist der wichtigste revolutionäre Faktor"

Bern. Irgendwie, sagt ein Herr mit Bauch und grauen Harren, fühle er sich an die "schönen alten Studentenzeiten" erinnert. "Die im Spartakusbund meine ich

 Ober-Anarchist Michail Bakunin: Auf ihn geht die Antiautoritäre Internationale zurück. Foto: Interfoto

Ober-Anarchist Michail Bakunin: Auf ihn geht die Antiautoritäre Internationale zurück. Foto: Interfoto

Bern. Irgendwie, sagt ein Herr mit Bauch und grauen Harren, fühle er sich an die "schönen alten Studentenzeiten" erinnert. "Die im Spartakusbund meine ich." Tatsächlich klingen viele Losungen beim "Welttreffen des Anarchismus" im Schweizer Uhrmacherstädtchen Saint-Imier durchaus vertraut - zumindest für jene, die schon 1968 ein gewisses Bewusstsein dafür entwickelten, dass es so einfach nicht weitergehen kann.Libertäre aller Richtungen und Schattierungen sind dem Ruf nach Saint-Imier gefolgt. Vertreten sind auch Aktivisten der Occupy-Bewegung sowie verschiedener Gruppen aus Deutschland - unter ihnen Anarchisten, die in Berlin und anderen Großstädten Proteste organisieren. Das Treffen hat eine starke Symbolik. Vor 140 Jahren wurde hier in der Heimat links und frei denkender Sozialisten die Antiautoritäre Internationale aus der Taufe gehoben - mit dem russischen Revolutionär Michail Bakunin als Paten. Marx und Engels waren den Anarchisten viel zu autoritär. Sie wollten "einen anderen Weg", sagt Jennifer aus Saarbrücken - wie fast alle hier will sie ihren Nachnamen nicht nennen. Eine andere Alternative zum Kapitalismus als die kommunistische, die sich in Diktaturen selbst diskreditiert habe - "das ist es, wonach wir suchen und streben".

Wogegen Revolutionäre wie die in Saint-Imier versammelten sind, ist mit ein paar Schlagworten leicht aufgezählt. Die No-No-Liste, veröffentlicht in einer Sonderausgabe des Magazins der Anarchistischen Föderation "Gaidao" - chinesisch für "ein anderer Weg" -, umfasst "Kapitalismus, Imperialismus, Patriarchat, Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Staatlichkeit, jegliche Religion und jede anderen Form von Unterdrückung".

Und wie steht's mit dem Wie? Wie wollen Anarchisten die Finanzkrise überwinden, fragen Reporter. Aristid Pedraza, einer der Vordenker der Anarchistischen Internationalen Föderation (AIF), muss nicht lange überlegen: "Keinen Cent mehr!", sagt er. "Die Rückzahlung der Kreditschulden muss sofort und überall eingestellt werden." Schließlich habe man es mit einer systemischen Krise des Kapitalismus zu tun, und die sollten gefälligst auch die Kapitalisten ausbaden und nicht das Volk. Widerstand müsse her, fügt AIF-Mitglied Fred Gautheron hinzu. "Wir müssen ihn überall organisieren. Streiks, Blockaden, ziviler Widerstand - alle Formen sind willkommen, in allen Ländern, und alle Arbeiter müssen sich solidarisch international zusammenschließen." Und Gewalt, ist die auch willkommen? "Natürlich nicht", sagt Pedraza. "Gewalt ist völlig uneffektiv. Wer Fensterscheiben einschmeißt, sollte daran denken, dass er damit einzig und allein den kapitalistischen Besitzern der Glasfabriken dient." Liebe sei der "wichtigste revolutionäre Faktor".

Und die Autos, die in Berlin mit schöner Regelmäßigkeit rings um den 1. Mai in Flammen aufgehen? "Wir sind grundsätzlich gegen Gewalt, solche Terroraktionen passen viel eher zur marxistischen Tradition des bewaffneten Kampfes." Mathias, ein 23-jähriger Berliner mit einem schönen schwarzen Nasenring und einer Baseball-Mütze auf strubbeliger Frisur, sieht das allerdings etwas anders. "Natürlich lehnen wir es ab, wenn jemand einfach so den alten Golf der netten Oma von nebenan abfackelt", sagt das Mitglied des Forums deutschsprachiger Anarchisten. Für ihn ist die Antwort auf die Gewaltfrage eine klares Jein. Denn wenn einer das Job-Center demoliere, das ihn schon x-mal hat hängen lassen, dann müsse man dafür Verständnis aufbringen.

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 Ober-Anarchist Michail Bakunin: Auf ihn geht die Antiautoritäre Internationale zurück. Foto: Interfoto

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Die politischen Ideen des Anarchismus gehen auf den griechischen Begriff anarchía (Herrschaftslosigkeit) zurück. Seine Anhänger lehnen jede Form der Herrschaft über den Menschen ab und wollen staatliche Institutionen wie Parteien, Justiz oder Militär beseitigen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit sind ihre der Französischen Revolution entlehnten Ideale. Die anarchistische Lehre entwickelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts. dpa

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