„Libanon steht vor dem Zusammenbruch“

Die Lage der in den Libanon geflüchteten Syrer ist dramatisch. Tausende hausen in Zelten oder Bauruinen und haben nicht einmal genügend Decken für ihre Kinder. SZ-Mitarbeiterin Silke Mertins sprach darüber mit Marion McKeone von „Save the Children“.

Sie kommen gerade aus dem libanesischen Bekaa-Tal zurück, wo die große Mehrheit der Flüchtlinge entlang der syrischen Grenze lebt. Wie kalt ist es dort?

McKeone: Die Temperaturen fallen schon jetzt und sinken in den kommenden Wochen bis unter null Grad. Von Ende November bis März fällt Schnee. Und wenn kein Schnee fällt, dann regnet es sehr stark. In den informellen Flüchtlingslagern, die meist aus ein paar Dutzend Zelten auf einem gemieteten Acker bestehen, gibt es kein Abwassersystem, sodass die Zelte überflutet werden, und das auch noch in Kombination mit gefrierendem Matsch. Die ohnehin geschwächten Kinder bekommen Bronchitis, Lungenentzündung und andere Atemwegserkrankungen. Das Wenige, was die Familien haben, wird durch den Regen beschädigt. Ich kann gar nicht beschreiben, wie grauenhaft die Lage im Winter für diese Menschen ist. Deswegen versuchen wir, in so vielen Lagern wie möglich Abwassersysteme zu installieren, damit der Regen abfließt und die Camps nicht im Schlamm versinken.

Wie viel schlimmer ist die Lage der Binnenflüchtlinge in Syrien selbst

McKeone: Über unsere Partner-Organisationen vor Ort wissen wir, dass wenigstens fünf Millionen Menschen innerhalb Syrien auf der Flucht sind und die Lage sehr verzweifelt ist, weil ihre Reserven aufgebraucht sind. Wir versuchen, sie zu unterstützen, aber der Zugang ist sehr schwierig. Der Winter wird furchtbar für sie, und wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, Druck auf Damaskus auszuüben, damit wenigstens humanitäre Hilfe geleistet werden kann. Insgesamt schätzen wir, dass zehn Millionen Syrer auf der Flucht sind, rund die Hälfte der Bevölkerung.

Sind die Grenzen noch offen?

McKeone: Ja, es kommen täglich neue Familien, die buchstäblich nichts haben und oft schon mehrfach in Syrien geflüchtet sind. Die Kinder haben furchtbare Dinge gesehen, sind oft krank und mangelernährt. Wir versuchen uns auf die allerbedürftigsten Familien zu konzentrieren und ihnen eine Grundausstattung zu geben. Es geht jetzt erst einmal darum, dass sie den Winter überleben.

Die Flüchtlinge sagen, sie haben nicht mal genug Decken. Wie das?

McKeone: Die Familien haben von allem zu wenig: Decken, Lebensmittel, Kleider, Geld, Heizöfen. Und alle Hilfsorganisationen, selbst das Uno-Flüchtlingshilfswerk, sind unterfinanziert. "Save the Children" hat auch nur die Hälfte des Geldes, das für die syrische Flüchtlingskrise benötigt wird. Die internationalen Geber haben auf die Spendenaufrufe bisher noch nicht ausreichend reagiert.

Wie können die Behausungen winterfest gemacht werden?

McKeone: Viele Flüchtlinge leben in unfertigen Häusern, Betonkonstruktionen ohne Fenster und sanitäre Anlagen. Das deutsche Außenministerium unterstützt uns bei einem Programm, diese Häuser winterfest zu machen. Wie geben den Familien 1500 Dollar, verhandeln mit den Vermietern, sodass sie die elementaren Dinge wie Türen, Strom- und Wasseranschluss einbauen können. Das ist ein neuer Ansatz, und er funktioniert sehr gut. Auf diese Weise haben wir schon mehrere hundert Gebäude renoviert, sodass tausende Menschen davon profitieren. Das Gute daran ist, dass auch die Vermieter mitspielen, denn es hebt den Wert ihrer Gebäude. Und die Flüchtlinge haben für ein Jahr eine garantierte Bleibe und eine reduzierte Miete.

Tausende Familien leben dennoch in Zelten. Gibt es nichts Besseres?

McKeone: Uns wird immer wieder gesagt, dass die unfertigen Gebäude ohne Fenster und Türen noch viel kälter sind als die Zelte. Das Zelt kann man verschließen und abdichten. Und wir haben den Familien gezeigt, wie man die Zelte mit mehreren Schichten besser isolieren kann. Wir stellen auch Öfen und Geld für Treibstoff zur Verfügung. Aber natürlich ist es alles andere als ideal. Niemand sollte im Zelt leben müssen.

Können die syrischen Flüchtlingskinder in Schulen gehen?

McKeone: Der kleine Libanon hat die Kapazitäten nicht. Schon jetzt machen die Flüchtlinge mit rund einer Million Menschen ein Viertel der Bevölkerung aus. Eine Beschulung wäre enorm wichtig, denn die Kinder leben in winzigen Behausungen, sie haben den ganzen Tag nichts zu tun. Es gibt keine Bücher, keine Struktur, keine Normalität, nichts. Doch nur zehn Prozent der syrischen Kinder im Libanon gehen zur Schule. Wir werden den Anteil auf 30 Prozent erhöhen können, aber die meisten Kinder werden auch noch ein drittes Schuljahr verlieren. Wenn die Welt jetzt nichts tun, wird eine Generation von traumatisierten, verstörten Analphabeten heranwachsen, für die es keine Zukunft gibt.

Zum Thema:

HintergrundDer EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider und der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Norbert Trelle, fordern in einer gemeinsamen Mitteilung, Deutschland solle "deutlich mehr" als die bisher zugesagten 5000 syrischen Bürgerkriegs-Flüchtlinge aufnehmen. Die beiden Geistlichen waren am Freitag in die Krisenregion gereist, um sich ein Bild von der Lage dort zu machen. Die Delegation besuchte unter anderem ein Flüchtlingslager nahe der syrischen Grenze.Unterdessen wurde bekannt, dass die USA offenbar die Militärhilfen für die Rebellen der Freien Syrischen Armee vorläufig eingestellt haben. Das soll die Rebellen dazu bringen, an der Ende November geplanten Genfer Syrienkonferenz teilzunehmen, hieß es aus US-Geheimdienstkreisen. dpa

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