Lernen unter Angst
Seit knapp sechs Wochen sind in Nigeria mehr als 200 Schulmädchen in den Händen der Terroristegruppe Boko Haram. Nicht nur Angehörige, Freunde und Menschenrechtsgruppen sind in höchster Sorge.
Die Massenentführung schürt auch in vielen Schulen Ängste.
Zwei Polizisten empfangen Schüler, Eltern und Besucher der St. Anne's Secondary School, einer weiterführenden katholischen Privatschule in Kaduna, schon am Tor. Ohne ihr Einverständnis darf niemand das Gelände betreten. Dennoch sind die Kontrollen lax. Wer etwa Schulleiterin Schwester Martina besuchen will, muss nicht mal den Inhalt der Taschen vorzeigen.
Schon seit drei Jahren ist Wachpersonal Teil des Alltags für die mehr als 400 Schüler der Privatschule. Nach den Präsidentschaftswahlen im April 2011 kam es im Bundesstaat Kaduna zu tagelangen blutigen Unruhen. Auch Wochen später war die Lage noch gespannt. Schulen erhielten daher zuerst Soldaten, später Polizisten zum Schutz. Wenn Schulleiterin Schwester Martina weitere Sicherheitsmaßnahmen wie den Bau einer höheren Mauer anstrebt, dann müssen auch diese von der Schule finanziert werden. Dennoch versucht die Direktorin, leidlich optimistisch zu bleiben. Im Moment könnten die Polizisten zumindest eine abschreckende Wirkung haben, hofft sie - und wirkt doch einen Moment später wieder besorgt: "Seien wir ehrlich: Was können zwei Polizisten ausrichten gegen bewaffnete Kämpfer von Boko Haram?" Was sie ebenfalls belastet, ist die Stimmung ihrer Schüler. Die Entführung der mehr als 200 Schülerinnen in Chibok im Bundesstaat Borno war zwar ein Schock für das ganze Land. Doch gerade Gleichaltrige nimmt es besonders mit.
An der Cleverland Academy School ist gerade Pause. Mehrere hundert Mädchen und Jungen stehen gedrängt auf dem kleinen, staubigen Schulhof. Seit der Entführung der Mädchen von Chibok sind auch hier Sicherheitsmaßnahmen verschärft worden. Staatliche Unterstützung gibt es nicht für die junge Privatschule in einem vorwiegend muslimischen Teil Kadunas. "Wir haben sofort reagiert und uns gut ausgebildetes Wachpersonal besorgt", sagt Leiter Shola Adediran, der auch Telefonate mit besorgten Eltern führen musste. Bislang konnte er sie beruhigen; kein Schüler bleibt zu Hause. Er selbst schätzt die Gefahr als gering ein. Die Schule ist von Mauern umgeben und liegt in einem belebten Wohnviertel. Dennoch ist die Entführung von Chibok auch Wochen später noch Thema. Die 13-jährige Zainab Suleiman schüttelt ungläubig den Kopf: "Mich macht das so unglücklich. Und was die Eltern erst denken? Das sind doch Mädchen wie wir." Sie selbst betet regelmäßig für die Schülerinnen. "Ob sie etwas zu essen haben? Ob sie schlafen können? Am schlimmsten ist wohl das Gefühl, dass sie nicht wissen, was am nächsten Tag mit ihnen passiert." Sie selbst will weiter zur Schule gehen.
Zainab Suleiman möchte Ärztin werden; besonders mag sie Mathe und Chemie. Vehement widerspricht sie dem Vorurteil, dass gerade in muslimischen Familien im Norden Nigerias Bildung für Mädchen als unnötig angesehen werde. "Das mag es geben", sagt sie, "aber mein Vater tut alles dafür, dass meine Geschwister und ich zur Schule gehen können."
Dennoch dürfte sich die unsichere Lage gerade in ländlichen Regionen im Nordosten weiter negativ auf den Schulbesuch auswirken. Ohnehin liegt Nigeria in der jährlichen Unesco-Studie zum Grundschulbesuch weit hinten. Wie sich der Entführungsfall und die wiederholten Angriffe auf Schulen statistisch auswirken, lässt sich nicht sagen. "Dazu liegen keine Daten vor", sagt Paddy Kemdi Njoku, Vorsitzender der Nationalen Examenskommission. Bei aller Kritik versucht er, weiter optimistisch zu bleiben. "Ich denke nicht, dass deshalb weniger Mädchen und Jungen zur Schule gehen", sagt er.