Legale Drogen durch die Hintertür

Los Angeles. Nathan Miller hat seit seinem 16. Lebensjahr keine Nacht mehr durchgeschlafen. Als er kürzlich 48 Stunden lang hintereinander kein Auge zumachen konnte, landete er im Krankenhaus. Jetzt sitzt der junge Mann im Wartezimmer von Dr. Michael Morris, der am berühmten "Ocean Front Walk" von Venice in der kalifornischen Metropole Los Angeles eine Marihuana-Praxis betreibt

Los Angeles. Nathan Miller hat seit seinem 16. Lebensjahr keine Nacht mehr durchgeschlafen. Als er kürzlich 48 Stunden lang hintereinander kein Auge zumachen konnte, landete er im Krankenhaus. Jetzt sitzt der junge Mann im Wartezimmer von Dr. Michael Morris, der am berühmten "Ocean Front Walk" von Venice in der kalifornischen Metropole Los Angeles eine Marihuana-Praxis betreibt.

Manager Steve Grist drückt Nathan einen Fragebogen in die Hand, der sich nach seinem allgemeinen Gesundheitszustand erkundigt. Ein Werbeblatt der Praxis weist die Patienten auf Beschwerden hin, die sie angeben können, um sich für eine "Empfehlung" des Doktors zu qualifizieren. Darunter "Appetitlosigkeit", "Ängste" und "Schlaflosigkeit". Statt 150 Dollar (rund 100 Euro) für die Untersuchung muss Nathan heute nur 80 Dollar (rund 54 Euro) zahlen. "Wegen der Konkurrenz", meint Manager Grist, dessen Mitarbeiter auf der Strandpromenade aggressiv Interessenten anwerben. In einem Radius von einem Kilometer stehen fünf Ärzte im Wettbewerb, die sich auf das lukrative Cannabis-Empfehlungs-Geschäft spezialisiert haben.

Als Nathan die Sprechstunde bei Dr. Moore eine Viertelstunde später wieder verlässt, huscht ein Lächeln über sein blasses Gesicht. "Hier ist die Empfehlung", freut sich der junge Mann. Mit dem ärztlichen Schreiben kann Nathan nun ein Jahr lang ganz legal Cannabis-Produkte erwerben und konsumieren. Möglich machte dies eine Volksabstimmung im Jahr 1996, bei der die Wähler den Konsum von Marihuana bei medizinischer Indikation erlaubt hatten.

Seit der Annahme der "Proposition 215" hat sich die Ausnahmeregel für AIDS- oder Krebspatienten zu einer Hintertür für den weitgehend ungehinderten Verkauf von Cannabis entwickelt. Kalifornien hat heute nicht nur die freizügigsten Gesetze in den USA, sondern mit Los Angeles eine Metropole, die mit ihrer liberalen Praxis Amsterdam in den Niederlanden Konkurrenz macht. In Los Angeles gibt es heute schon mehr offizielle Verkaufsstellen für Marihuana als öffentliche Schulen oder Starbucks-Cafés.

Die Zahl dieser Verkaufsstellen rangiert irgendwo zwischen 800 und 1000. Sie werben oft mit einem grünen Kreuz, sind nicht selten an sieben Tagen rund um die Uhr geöffnet und tragen einprägsame Namen wie "Grateful Meds" (etwa: "Dankbare Ärzte"). Diese so genannten Dispensaries finden sich in der Nähe von Restaurants, Tankstellen und Reinigungen, in wohlsituierten Nachbarschaften ebenso wie in armen Teilen der Stadt. Und nicht selten in Reichweite von Schulen und Universitäten.

Gleich neben der Praxis von Dr. Moore am Strand von Venice findet sich ein "Smoke Shop", der Wasser- und Haschischpfeifen verkauft. Die Treppe rauf geht es zum "Kush Beach Club", der Cannabis in jeder nur denkbaren Form feilbietet: Das klassische Gramm kostet rund 20 Dollar (rund 13,5 Euro). Alternativ gibt es den Wirkstoff "THC" in Sprays, Süßigkeiten oder Keksen. Gegen Vorlage des Führerscheins und der "Empfehlung" kann Nathan hier seinen Bedarf decken. Die Frage lautet: Wie lange noch?

Dem obersten Ankläger von Los Angeles, Steve Cooley, gefällt schon seit einiger Zeit nicht, was in den Cannabis-Shops vor sich geht. "Wir gehen davon aus, dass 100 Prozent illegal sind", meint Cooley, der den Betreibern vorhält, entgegen der gesetzlichen Vorgabe nicht gemeinnützig, sondern gewinnorientiert zu arbeiten. "So geht das nicht mehr weiter", droht der Haudegen, der für die nahe Zukunft Razzien in Aussicht stellt.

Dr. Moores Manager alias Hufschmied Grist sieht den Drohgebärden gelassen entgegen. "Sie werden die Patienten nicht wieder in den Untergrund schicken," spekuliert er. Vielleicht könnte sich das Problem noch ganz anders regeln. Falls die neue Volksabstimmung, die auf die völlige Legalisierung von Cannabis abzielt, erfolgreich ist, müsste sich Marihuana-Doktor Moore eine neue Einkommensquelle suchen. Seine "Empfehlung" wäre dann genauso überflüssig wie die drohenden Razzien.

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