Leben wie Gott in Frankreich

Farschviller/Ernestviller. "Leben wie Gott in Frankreich", davon schwärmt mancher Deutsche. Das allmorgendliche knusprige Croissant, die für Grenzgänger wegfallende Lohnsteuer, weltbekannte Landschaften und Museen. Aus dem Urlaubsgefühl das Leben machen, das haben 2011 nach Angaben des Statistischen Landesamtes allein 935 Saarländer wahr gemacht

 Jürgen Kessler ist mit seiner in Frankreich geborenen Frau Eva Niemczyk ins lothringische Farschviller gezogen. Hier fühlen sich die zwei "sauwohl". Foto: Becker&Bredel

Jürgen Kessler ist mit seiner in Frankreich geborenen Frau Eva Niemczyk ins lothringische Farschviller gezogen. Hier fühlen sich die zwei "sauwohl". Foto: Becker&Bredel

Farschviller/Ernestviller. "Leben wie Gott in Frankreich", davon schwärmt mancher Deutsche. Das allmorgendliche knusprige Croissant, die für Grenzgänger wegfallende Lohnsteuer, weltbekannte Landschaften und Museen. Aus dem Urlaubsgefühl das Leben machen, das haben 2011 nach Angaben des Statistischen Landesamtes allein 935 Saarländer wahr gemacht.

Weder Croissants noch gesparte Lohnsteuer haben Jürgen Kessler nach Lothringen verschlagen. Aber nah dran ist es dann doch. "Keine willkürliche Bürokratie und keine Hundesteuer mehr, niedrigere Nebenkosten und feineres Fleisch für das Entrecôte", zählt der 56-jährige Saarländer auf. Er zündet sich eine Zigarette an, im Kamin brennt ein Feuer. Wieder zurück nach Deutschland? "Nie wieder!", ruft Kessler rigoros aus. Auch wenn in den Kabeln Atomstrom fließt, der Internetanschluss zwei Monate brauchte, sein Französisch bescheiden ist. "Mehr Gemütlichkeit und offenere Menschen" will er nicht mehr missen. "Der Wunsch zum Umzug nach Frankreich ging von ihm aus", erzählt seine französische Frau Eva Niemczyk und ergänzt lachend.

"Die Schnauze voll"

Ein Haus gekauft hat der Saarländer mit seiner Frau vor drei Monaten im Dorf Farschviller mit 1529 Einwohnern. Dort, wo sich Wolf und Heinrich Gute Nacht sagen, Loupershouse und Henriville sind gleich die nächsten Dörfer. 40 Kilometer von der ehemaligen Wohnstadt Heusweiler entfernt. Im Garten tollen drei sandfarbene Galgo-Windhunde. In Deutschland habe Kessler von so einigem "die Schnauze voll" gehabt. "Ich habe mich nur noch wie eine Nummer gefühlt, wie ein Bittsteller", erklärt der bei einer deutschen Firma arbeitende Automechaniker. Sturheit und Haste-was-biste-was-Mentalität hätten ihn vergrault. Hingegen in Frankreich sei die Bürokratie schneller und einfacher, beim Hauskauf habe jeder erklärt und geholfen. 15 Häuser hat er sich in Heusweiler angeschaut. "Aber da wollten mich Immobilienschnösel nur über den Tisch ziehen", berichtet er verärgert. Umso angenommener fühlt er sich in seiner neuen Heimat. Doch mit negativen Erfahrungen rechnet er auch hier. Was jedoch zähle, sei, dass sie sich hier "sauwohl" fühlten. Seine Frau erzählt, dass sie Frankreich in vielem bürgernaher und familienfreundlicher findet. "Wo man in Deutschland redet, handelt man in Frankreich", sagt die Grenzgängerberaterin.

Marianne Hequet war 19, als sie in Goslar von einem dort stationierten Franzosen auf der Straße angesprochen wurde. "Zu seinem Erstaunen konnte ich ihm auf Französisch antworten." Eine Straßenbekanntschaft, aus der mehr werden sollte. Mit 16 Jahren war sie zum Austausch in Südfrankreich gewesen, der Klang der Sprache, das Kulturgut des Landes, die Idee von Europa und einer deutsch-französischen Aussöhnung begeisterten die junge Frau damals sehr. 41 Jahre später haben die beiden Eheleute drei gemeinsame Kinder zweisprachig groß gezogen und im beschaulichen Ernestviller, nahe Farschviller, ein Haus gebaut. "Offenheit und Sprachkenntnisse sind das A und O, die gesellschaftliche Integration findet dann über die Kinder statt", erzählt sie aus ihrer Erfahrung. "Einigeln und Hochmut gehen da nicht." Heute singt die Deutsche mit im französischen Chor und geht auch in den örtlichen Tanzverein. Zu Beginn kamen ihr die Franzosen weniger ernst und streng als die Deutschen vor, aber dann fielen ihr viele Gemeinsamkeiten mit der Mentalität der Lothringer auf: "Pünktlich und genau sind sie wie Deutsche, haben aber mehr Nationalstolz."

Spürbare Ablehnung hat die Frau aus Goslar, die keine 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach Lothringen kam, in der Familie ihres Mannes nicht erlebt. "Die Vorbehalte des Opas meines Mannes gaben sich, als ich mit ihm Französisch sprach." Das Schicksal einer Tante, deren Mann im KZ Dachau starb, berührt sie noch heute. "Als ich es erfuhr, habe ich geheult wie ein Schlosshund, weil ich mich schuldig fühlte", erzählt die 63-Jährige. Doch die Frau tröstete sie herzlich. "Großmut, der aber auch wehtut", sagt sie.

Marianne Hequet räumt allerdings mit dem Mythos vom steuerlichen Paradies Frankreich auf: Denn steuerlich fühlt sie sich benachteiligt, weil eine deutsch-französische Ehe auch heute noch "administrativ schwierig" sei. Beide müssten das Einkommen des Ehepartners in beiden Ländern angeben. "Das ist der Preis, den wir für die deutsch-französische Freundschaft bezahlen." Sie kann mit dem Spruch "Leben wie Gott in Frankreich" im praktischen Leben nicht viel anfangen: "Hier muss man genauso viel arbeiten wie in Deutschland".

Keine Reue

Den Schritt über die Grenze bereut die niedersächsische Lothringerin, die in Kleinblittersdorf als Französischlehrerin arbeitete, keinesfalls: "Es ist unfassbar bereichernd in eine andere Kultur mit ihren Künsten, ihrem Humor und ihrer Lebensart einzutauchen."

Der Spruch zum göttlichen Leben im Land des gallischen Hahns soll aus der Zeit der Französischen Revolution stammen. Der Volksmund kann damals das - bis zum Umsturz - süße, da steuerfreie und privilegierte Leben der Geistlichkeit gemeint haben. Oder er meinte die folgende Entmachtung der katholischen Kirche. Denn danach hatte Gott mit Staatsgeschäften in Frankreich nicht mehr viel zu tun und konnte dort "L'art de vivre" genießen.

Hintergrund

Im Jahr 2011 sind 935 Menschen vom Saarland nach Frankreich gezogen. 2010 waren es nur 860. Das war der Tiefststand seit 2000, seitdem das Statistische Landesamt des Saarlandes die Zahlen aufgeschlüsselt führt. Die meisten Menschen zogen in den Jahren 2003 (1133) und 2008 (1115) in das westliche Nachbarland.

Umgekehrt sind weniger Deutsche aus Frankreich ins Saarland zurückgezogen. Die meisten waren es 2011 (910), die wenigsten im Jahr zuvor (810). sop

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