Lautloser Tod aus der Luft

Frankfurt · Die Nationalsozialisten priesen sie lauthals als „Wunderwaffen“, doch militärisch waren die Raketen ein Flop. Gleichwohl starben mehr als 13 000 Menschen durch V2-Beschuss – und geschätzte 20 000 KZ-Häftlinge, die die Waffen bauen mussten.

"Ich will vernichtende Wirkung", fordert Adolf Hitler im Juli 1943 nach einer Präsentation der Rakete V2 im Führerhauptquartier "Wolfsschanze". Er bekommt Tod und Terror 14 Monate später: Am 8. September 1944 wird London zum ersten Mal von einer Rakete getroffen.

Um 18.42 Uhr schlägt eine V2 in der Staveley Road im Vorort Chiswick mitten in einem Wohngebiet ein, abgefeuert aus Den Haag. Drei Briten werden getötet, zehn Menschen verletzt. 1000 Kilo Sprengstoff hinterlassen einen gewaltigen Krater, zerstören sechs Häuser und beschädigen mehrere Gebäude schwer. Das "V" steht für Vergeltung und ist eine zynische Wortschöpfung von Propaganda-Minister Joseph Goebbels . Rund 1400 der sprengstoffbeladenen Flugkörper erreichen bis März 1945 London oder Südengland. Allein in der Hauptstadt töten sie 2700 Menschen. Weiteres Ziel: das belgische Antwerpen, über das ein großer Teil des alliierten Nachschubs herangeschafft wird. Durch die tückischen Angriffe aus der Luft sterben knapp 6450 Belgier.

Hitler interessiert sich anfangs nicht besonders für die Ergebnisse der Raketenentwickler. Das ändert sich erst, als die Niederlage der Deutschen unaufhaltsam näher rückt. Jetzt, so verlangt er mit allem Nachdruck, müsse die Produktion der fliegenden Bomben höchste Priorität haben. Daraufhin treibt die Schutzstaffel (SS) Tausende von KZ-Häftlingen in die verschiedenen Raketenschmieden des Reiches.

Die Angreifer setzen auf die psychologische Wirkung ihrer "lautlosen" Waffe, gegen die es keine Abwehrmaßnahmen gibt: Aufgrund der Überschallgeschwindigkeit sind die heranfliegenden Raketen nicht zu hören. Doch ebenso wichtig ist die Wirkung der Flugkörper nach innen: Die Deutschen sollen auch nach der Niederlage in der Normandie, wo die Alliierten kurz zuvor die Tür nach Europa aufgestoßen haben, weiter unerschütterlich an einen "Endsieg" glauben. Doch die Strategie verfängt nur kurz, dann machen Gerüchte über häufige Fehlschläge der V2 die Runde. Vor allem die Ungenauigkeit der Raketen lässt sich kaum länger verheimlichen.

Zentrum der deutschen Raketenentwicklung ist seit Ende der 1930er Jahre Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom. Hier entwickeln Ingenieure nach vielen Experimenten mit Vorgängermodellen unter der Leitung von Wernher von Braun (1912-1977) und Klaus Riedel (1907-1944) eine Flüssigkeitsrakete, genannt "Aggregat 4". Am 3. Oktober 1942 gelingt der gefeierte erste Start. Das Fluggerät besteht aus etwa 20 000 Einzelteilen und misst 14 Meter. Vollgetankt wiegt es stolze 13 Tonnen.

Längst weiß auch der Gegner von den Gefahren, die das deutsche Raketenprogramm mit seinen Massenvernichtungswaffen heraufbeschwört. Die Briten reagieren mit der "Operation Hydra": Sie bombardieren in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1943 die Heeresversuchsanstalt Peenemünde .

Daraufhin wird die Hauptproduktion der V2 in die unterirdische Anlage Mittelbau-Dora in Thüringen verlegt, eines der grausamsten Lager des Nazi-Reichs. Mindestens 60 000 Zwangsarbeiter sind hier im Einsatz, vor allem aus der Sowjetunion, Polen und Frankreich. Jeder Dritte stirbt infolge der verheerenden Arbeits- und Lebensbedingungen. Stollen von insgesamt etwa 20 Kilometer Länge werden in den Berg Kohnstein getrieben. "Das ist ein Unikum, ich glaube, es hat keine andere Waffe gegeben, die schon in der Produktion so viele Menschenleben gefordert hat", sagt der ehemalige Leiter der Gedenkstätte KZ Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner. Wohl vor allem aufgrund der unvorstellbaren Produktionsverhältnisse bleibt die "Wunderwaffe" technisch anfällig. Die Anzahl ihrer Versager ist hoch: Von den knapp 1360 auf London abgefeuerten Geschossen fallen 169 sofort nach dem Start vom Himmel. 61 zerlegen sich kurz darauf im Flug. Insgesamt werden 6000 Raketen gebaut, aber nur etwa 3200 kommen zum Einsatz - eine Folge erfolgreicher Sabotage durch die KZ-Zwangsarbeiter.

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