Atommüll in den USA Lauert im Müll die Katastrophe?
St. Louis · Auf einer Müllhalde im US-Staat Missouri sollen radioaktive Abfälle lagern. In dem Gebiet schwelt seit Jahren ein Brand, der die Anwohner alarmiert. Doch niemand scheint ihnen helfen zu wollen.
Dawn Chapman muss an ein Krankenhaus denken, wenn sie das Zischen hört. Vorm Mund eine Atemschutzmaske, die Hände in die Hüften gestemmt, so steht sie an der schmalen Boenker Lane im Straßengraben vor einem Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtkrone. Hinterm Zaun ein Gewirr aus Rohren, Schläuchen, Ventilen und Messgeräten. Es stinkt nach Tankstelle und faulen Eiern, und manchmal zischt es so laut, dass man sein eigenes Wort kaum versteht. Dawn Chapman muss schreien, um den Lärm zu übertönen. „Wie ein Patient, der am Tropf hängt, finden Sie nicht?“
Chapmans Metapher trifft es ganz gut. Der Zustand des Patienten ist kritisch. Ein unterirdischer Schwelbrand frisst sich durch die Müllberge im Nordwesten von St. Louis, das Schlauchgewirr soll helfen, ihn unter Kontrolle zu halten. Doch niemand vermag mit Gewissheit zu sagen, ob und wann das Feuer auf eine zweite, eine geheimnisumwitterte Deponie überspringt. Auf eine Müllhalde namens West Lake, die direkt an die brennende grenzt. Und wie weit es noch entfernt ist. Dreihundert Meter? Oder nur noch zweihundert? „Sehen Sie dort, das Wäldchen“, sagt Chapman und zeigt in die Ferne, wo der Deich des Missouri River eine markante Barriere in dem flachen Land bildet. Unter den Bäumen, weiß sie mittlerweile, obwohl es Staatsgeheimnis ist, lagern radioaktive Abfälle. Vor 44 Jahren dort abgekippt, unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit. Falls es irgendwann auch auf der West-Lake-Deponie zu brennen beginnt, wäre der Katastrophenfall eingetreten. Ein Katastrophengebiet? Hier? Zwischen Rosenbüschen und akkurat gemähtem Rasen? Wer nach Maryland Heights zog, suchte die Ruhe, den Charme einer Vorstadtsiedlung, in der man sich freitags mit den Nachbarn trifft. Das war, bevor den Einwohnern schwante, was für eine Zeitbombe drei Kilometer weiter nördlich tickt. Zeitbombe, es ist noch so ein Sprachbild, das sie hier gern verwenden.
2010 fing es an mit dem Müllbrand, ohne dass jemand die Anwohner informiert hätte. Drei Jahre später setzte sich ein couragierter Feuerwehrmann über die Dienstvorschriften hinweg und schenkte dem Duo Chapman/Nickel reinen Wein ein. Die zwei hatten gerade eine Facebook-Initiative gegründet, weil sie ja riechen konnten, dass mit der Kippe etwas nicht stimmte. Stand der Wind ungünstig, zog beißender Qualm über Maryland Heights. Chapman hat drei Kinder, Nickel vier. Als Chapman einmal mit einer Behörde telefonierte und Fragen stellte, die Wissen verrieten, wurde sie gefragt, ob sie Rechtsanwältin sei, während im Hintergrund die Kinder lärmten. „Nein, ich bin einfach eine Mutter“, antwortete sie. Daraus wurde der Name ihrer Gruppe. Just Moms. Einfach Mütter. Karen Nickel öffnet die Fenster nicht mehr. Im Auto liegen Atemmasken und Augentropfen bereit.
Wie ernst die Lage ist, wurde ihnen so richtig erst klar, als die Schulverwaltung im Herbst 2015 merkwürdige Briefe an die Haushalte im Nordwesten von St. Louis verschickte. Im Falle einer Havarie auf der Kippe, stand darin, würde die Schule evakuiert. Den Eltern wäre nicht gestattet, die Kinder abzuholen, zumindest nicht gleich. Von Radioaktivität stand nichts in dem Schreiben. Karen Nickel glaubt zu wissen, warum die Warnung so kryptisch ausfiel. West Lake ist eine Hinterlassenschaft des Manhattan-Projekts. Was mit dem Manhattan-Projekt zu tun hat, ist bis heute unter Verschluss. Top secret.
Gemeint ist das Programm zum Bau der ersten Atombombe, benannt nach der Wolkenkratzerinsel, auf der Physiker in einem Labor der Columbia University an der Kernspaltung forschten. Ab 1942 verarbeitete das Chemieunternehmen Mallinckrodt in St. Louis Uranerz aus Katanga, damals Belgisch-Kongo, ehe es nach Chicago gebracht wurde, wo Enrico Fermi einen Nuklearreaktor aufgebaut hatte. Die Rückstände ließ das Energieministerium in der Nähe des Flughafens von St. Louis abkippen. Später übernahm eine Firma namens Cotter Corporation die Halde, die mit der Erweiterung des Flughafens abgetragen und in einem Vorort namens Hazelwood neu aufgetürmt wurde. 1973 landete der strahlende Müll in West Lake. Das Zeug, hieß es damals, sei fast so gut wie Gartenerde, völlig ungefährlich. 2008 wechselte die Deponie den Besitzer, seither ist der Konzern Republic Services für sie zuständig. An der Geheimniskrämerei hat sich nichts geändert. Die Umweltbehörde EPA, sagt Nickel, sei besonders beharrlich beim Mauern.
Matt La Vanchy zeigt im Besprechungszimmer seiner Feuerwache auf die Wände, die förmlich tapeziert sind mit Müllkippen-Landkarten. Vorsichtig wägt er jedes Wort ab. Er weiß, was für Folgen es haben kann, wenn man ein falsches wählt und es in der Gerüchteküche zu brodeln beginnt. La Vanchy hat es erlebt, als herauskam, dass es sich bei West Lake um ein Erbe des Manhattan-Projekts handelt. Die Leute hätten ihn bestürmt mit Fragen. Fliegt uns das alles um die Ohren? Sitzen wir auf einer Bombe? Er habe mit Engelsgeduld erklären müssen, erzählt der Vizechef des Feuerwehrdistrikts Pattonville, dass es sich nicht um die Atombombe handle, sondern um ein Nebenprodukt des Bombenbaus. Für La Vanchy dennoch kein Grund zur Entwarnung. Uran, Thorium, Radium, alles Mögliche stecke in dieser Kippe. Nicht auszudenken, wenn es mit Rauchwolken über St. Louis verteilt würde. Im April lief nach heftigen Regenfällen das Wasser die Hänge der West-Lake-Deponie hinab. Wissenschaftler testeten daraufhin den Boden jenseits des Zauns. Die Thorium-Werte lagen weit über dem Zulässigen. Bis dahin hatten die Manager von Republic Services stets beteuert, dass nichts aus dem umzäunten Gelände entweichen könne.
Was es kostet, um den verstrahlten Haufen, mehr als vierzigtausend Tonnen, in einer Höhle irgendwo in den Rocky Mountains zu entsorgen, lässt sich nur schätzen. Summen von 400 Millionen Dollar machen die Runde. Der Deponiebetreiber argumentiert, dass er für Altlasten des Manhattan-Projekts keine Verantwortung trägt. Mark Matthiesen, Abgeordneter im Parlament des Bundesstaats Missouri, sieht es ähnlich. „Letzten Endes stehen die Feds in der Pflicht“, sagt der Republikaner und meint die Regierung in Washington. Die „Feds“ aber bremsen. Man habe Bodenproben in umliegenden Wohnvierteln entnommen, ein Gesundheitsrisiko gebe es nicht, ließ die EPA unlängst wissen.
Debbie Disser steht auf einer Brücke über dem Coldwater Creek. Der Bach weckt Erinnerungen, an seinem Ufer hat ihr Bruder Doug als Kind oft gespielt. Im April 2008, im Alter von 43 Jahren, starb Doug an Krebs. Drei Jahre darauf las Disser in der Zeitung von den Krebsfällen, die sich bei Leuten, die einst in der Nähe des Coldwater Creek lebten, in Hazelwood, der zweiten Station der Atommüll-Odyssee, bedenklich häuften. Seither trägt sie alle Infos zusammen. Sie ist die Gründliche an der Seite von Chapman und Nickel. „Ich kann nicht lockerlassen, bis die volle Wahrheit auf dem Tisch liegt“, sagt Disser.
Es gibt Nachbarn, die am liebsten wegziehen würden. Was einfacher gesagt ist als getan. Seit sich das mit der Zeitbombe herumgesprochen hat, fallen die Immobilienpreise in Maryland Heights, wo fast jeder im Eigenheim wohnt und kaum jemand zur Miete. Wer einen Kredit aufnahm, ahnt schon, dass er beim Verkauf seines Hauses weniger bekommt, als er noch an Restschulden abzustottern hat. Falls sich überhaupt Käufer finden. Manchmal streift sich Karen Nickel ein T-Shirt über, versehen mit dem sarkastischen Spruch: „St. Louis – Glowing Strong Since WW II“. Soll heißen, dass St. Louis seit dem Zweiten Weltkrieg stark glimmt, schimmert, strahlt. Die West-Lake-Deponie bildet die dazu passende Kulisse.