Unabhängige Kommission Bittere Bilanz bei Kindesmissbrauch

Berlin · Bei der Aufarbeitung der Skandale habe die Gesellschaft versagt. So bilanziert es der erste Bericht der Unabhängigen Kommission zum Thema.

 Bei der Aufarbeitung von Kindesmissbrauchsfällen wird zu wenig getan, beklagt die Unabhängige Kommission in ihrem ersten Bericht.

Bei der Aufarbeitung von Kindesmissbrauchsfällen wird zu wenig getan, beklagt die Unabhängige Kommission in ihrem ersten Bericht.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Die Bilanz ist bitter: Es geht um kollektives Schweigen und ein flächendeckendes Versagen, für das die Gesellschaft heute die Verantwortung übernehmen müsse. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stellte gestern in Berlin ihren Bilanzbericht nach drei Jahren Tätigkeit vor. Das nahe Umfeld und die gesamte Gesellschaft hätten die Kinder nicht geschützt und die betroffenen Erwachsenen nicht unterstützt, erklärte die Kommissions-Vorsitzende Sabine Andresen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte die Bundesländer eindringlich auf, eigene Missbrauchsbeauftragte zu berufen. Viele der Empfehlungen der Kommission richteten sich an Länder und Kommunen. „Kinderschutz ist kein Gedöns“, sagte Rörig, „sondern Kriminalitätsbekämpfung.“ Fälle wie in Staufen oder Lügde zeigten, der Kinderschutz in Deutschland sei in der Krise. Die Politik müsse sich neu aufstellen, forderte Rörig. Er kündigte eine gemeinsam mit dem Familienministerium konzipierte Sensibilisierungskampagne an, die 2020 starten soll.

Der am Dienstag veröffentlichten Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts zufolge wurden vergangenes Jahr 13 683 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs erfasst. 2017 waren es noch 12 850.

Seit 2016 haben sich fast 1700 Betroffene an die Aufarbeitungs-Kommission gewendet. Knapp 900 Menschen konnten in vertraulichen Anhörungen berichten, was ihnen widerfahren ist. Zusätzlich wurden rund 300 schriftliche Berichte ausgewertet. Auf diesen Erfahrungen und Schilderungen beruhten der Bilanzbericht und die Empfehlungen der Kommission, sagte Andresen: „Wir hoffen sehr, dass dieser Bericht nicht ins Regal gestellt wird, sondern die Erkenntnisse überall berücksichtigt werden.“

Die Kommission fordert, Kinder und Jugendliche müssten ernstgenommen und geschützt werden. Ihre Rechte müssten bei Behörden oder vor Gericht im Mittelpunkt stehen. Erwachsene Betroffene bräuchten eine gute Versorgung. Sie erhielten oft keine passenden Hilfen, etwa bei Therapien. Die Hürden im sozialen Entschädigungsrecht seien zu hoch. Erwachsene, die als Kinder vor 1990 in der DDR sexuelle Gewalt erlitten haben, haben dem Bericht zufolge bisher praktisch keine Chance auf eine Entschädigung auf diesem Weg.

Die Kommission spricht zahlreiche Empfehlungen aus, damit Betroffene zu ihrem Recht kommen, etwa fordert sie mehr Schulungen für Mitarbeiter von Behörden, in der Justiz und bei den Krankenkassen, aber auch für Pädagogen, Mediziner, Psychologen und Juristen.

Schwerpunkte der Arbeit in den ersten drei Jahren waren der Missbrauch in der Familie, in den Kirchen und in der DDR. Seit diesem Jahr kümmert sich die Kommission insbesondere um Missbrauch im Sport und von behinderten Menschen. Zentrales Thema in den Anhörungen der Betroffenen war das Schweigen und Wegsehen der Umgebung, das „Schweigen der Anderen“, wie Andresen sagte. Das habe Kinder und Jugendliche gezwungen, die Gewalterfahrungen allein zu bewältigen, um weiterleben zu können. Mehr als die Hälfte der Betroffenen (56 Prozent) hat die Gewalt in der eigenen Familie erlitten. Die meisten sind Mädchen und Frauen (83 Prozent).

Die Arbeit des 2016 eingesetzten Gremiums war zunächst auf drei Jahre begrenzt worden und wurde inzwischen bis Ende 2023 verlängert. Sie entstand in Reaktion auf das Bekanntwerden der Missbrauchsskandale in Kirchen und anderen Institutionen vor gut neun Jahren.

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