König Fußball soll Frieden bringen

Wenn Fifa-Chef Sepp Blatter und Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff heute auf der Ehrentribüne im Estadio Itaquerão von São Paulo Platz nehmen, sollten sie den Kopf nicht zu weit nach rechts wenden. Auf einem der Hochhäuser, die neben dem Stadion des WM-Eröffnungsspiels stehen, haben Gegner weithin sichtbar zwei Worte gemalt: „Fucking Cup“ steht da in holprigem Englisch zu lesen, aber die Botschaft ist dennoch klar.

"Wir wollen Eure WM nicht."

Vermutlich bleibt den Ehrengästen bei der WM-Eröffnung der Blick auf die Schmähung aber erspart. Denn die 38 Millionen Reais (zwölf Millionen Euro) teuren Behelfstribünen, mit denen die Kapazität des Stadions auf 61 600 Zuschauer aufgestockt wird, versperren den Blick auf die angrenzenden Wohnhäuser. Dennoch: Während kurz vor dem Anpfiff der Weltmeisterschaft 2014 zwischen Brasilien und Kroatien am "Itaquerão" die letzten Nägel eingeschlagen wurden, gingen die Proteste und Streiks in der brasilianischen Metropole weiter. Schon jetzt ist sicher: Auch der Auftakt des Sport-Spektakels wird von Nebengeräuschen beschallt werden. Verschiedenste Gruppierungen wollten protestieren und so versuchen, bei der WM auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Immerhin haben Brasiliens Regierung und Sao Paulo für die Tage der WM mit dem Versprechen eines Maßnahmenpakets einen Burgfrieden mit der "Bewegung der obdachlosen Arbeiter" (MTST) geschlossen. Vor allem der Bau von 2000 Wohnungen auf einem besetzten Gelände rund 3,5 Kilometer von der WM-Arena hat einige Protestler vorerst zum Umdenken bewogen.

Als Brasiliens Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari Anfang Mai in einem Medien-Spektakel seine auserwählten Spieler für die WM im eigenen Land vorstellte, hatte er auf eine Frage offenbar nur gewartet. Ob denn die sozialen Proteste in Brasilien Auswirkungen auf die Leistung der Nationalmannschaft haben würden, wollte ein Reporter von TV Globo wissen. Die Antwort des Coachs kam überraschend schnell und deutlich: "Ja, natürlich. Sehr sogar." Unter anderem dafür habe der brasilianische Verband eigens eine Psychologin engagiert, ergänzte Felipão, der große Felipe, wie er in seiner Heimat genannt wird. Die Aufgabe der Seelenfachfrau ist es also, den Kickern beizubringen, dass an ihrem Erfolg nicht das Wohl und die Stabilität des größten Landes Lateinamerikas hängen. Auch wenn es so aussieht, dass nur ein erfolgreiches Abschneiden der "Verdeamarelha" so etwas wie soziales Balsam auf die Wunden des Landes streichen kann.

Denn die brasilianische Nationalelf spürt genau, dass die Vorfreude auf das Turnier in der Heimat sehr verhalten ist. Gewöhnlich malen die Brasilianer vor einem Weltturnier Straßen und Häuser grün, gelb und blau, den Farben des Landes an. Bisher ist davon nur wenig zu sehen. Das sportverrückte Brasilien diskutiert derzeit kaum über "Futebol", sondern vor allem über exorbitante Kosten für Stadien und Sicherheit, tote Arbeiter auf den Baustellen, brutale Polizeieinsätze in den Favelas, Proteste von Ureinwohnern, Streiks von Busfahrern und Polizisten und darüber, dass ausbleibt, was die Regierung gleichsam als Nebeneffekt des Turniers versprochen hatte: bessere Krankenhäuser, mehr Lehrer, sicherere Straßen. Also ein moderneres Brasilien.

Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Datafolha sind nur noch 48 Prozent der Brasilianer für die Weltmeisterschaft. 2008, ein Jahr nachdem Brasilien das Turnier zugesprochen worden war, lag der Wert noch bei 80 Prozent. Im gleichen Zeitraum vervierfachten sich die WM-Gegner von zehn auf 41 Prozent.

290 000 Touristen werden heute in São Paulo erwartet. Eine Milliarde Menschen werden vor den TV-Schirmen kleben. Nach Schätzung des politischen Thinktanks "Stiftung Getúlio Vargas" wird alleine das Eröffnungsspiel umgerechnet 330 Millionen Euro in die Fifa-Kasse spülen. Da dürfte Sonnenkönig Blatter kaum stören, dass Hunderttausende Brasilianer nur eines finden: "Fucking Cup".

So oder so: Ab heute hat "König Fußball" das Sagen. Brasilien will mit einer Galavorstellung seine Fans im Eröffnungsspiel verzaubern und den ersten Schritt zum sechsten Titel machen. Die Favoritenrolle hat der Rekord-Weltmeister längst angenommen.

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Auf einen BlickBlaumachen: Wegen der Zeitverschiebung (zwischen fünf und sechs Stunden) werden die Spiele im deutschen TV auch mal um 24 oder 3 Uhr gezeigt: 1,4 Millionen Deutsche planen deshalb, während der WM blau zu machen. Zwei Tage lang. Das zeigt eine Umfrage der Keyfacts-Onlineforschung. Wann genau sie krankfeiern wollen, ließen die Befragten offen. Dafür steht fest, wie viel Geld der Volkswirtschaft so durch die Lappen geht: 446 Millionen Euro. Eine Hitze ist das: Das Wetter hat schon bei so mancher WM-Endrunde eine Rolle gespielt. Ein Thema werden die Temperaturen auch in Brasilien sein. Dort sorgen Gluthitze und Schwüle dafür, dass unsere Jungs sicher nicht 90 Minuten lang mit Dauergrinsen über den Platz laufen werden. In Recife, Salvador und Fortaleza, den Vorrunden-Spielorten des deutschen Teams, herrschen im Schnitt 30 Grad. Zudem ist Regen im Juni garantiert. Was für Rekorde: Keine WM ohne Bestenlisten. Der Rekord-Torschütze mit 15 Toren ist ein Mann vom Zuckerhut: Ronaldo Luís Nazário de Lima, kurz Ronaldo. Miroslav Klose kann ihn jetzt vom Thron stoßen. Er hat bislang 14 Mal getroffen. Titel-Sammler Nummer 1 ist Brasilien. Fünf Mal stemmte das Team den Pokal in die Höhe. Auch seine 19 Endrunden-Teilnahmen sind Spitze. Die meisten Partien, 25, bestritt unser Rekordnationalspieler Lothar Matthäus. 2217 Minuten und damit am längsten auf dem Platz stand der Italiener Paolo Maldini. Die höchste Niederlage setzte es 1982 für El Salvador - ein 1:10 gegen Ungarn. Teure Teams: Fußballer sind längst zur Handelsware geworden. Rechnet man die Marktwerte der Spieler eines Kaders zusammen, liegt Spanien mit 622 Millionen Euro klar vor Deutschland (526 Millionen), Brasilien (468) und Argentinien (392). Ein Motto muss sein: "Ein Land, ein Team, ein Traum." Dieser Slogan prangt beispielsweise auf dem deutschen Team-Bus, der die Spieler durch Brasilien kurvt. Kurioser klingt da der Spruch unserer WM-Erzfeinde, den Holländern, die wegen ihrer Trikot-Farbe auch "Oranje boven" genannt werden. "Echte Männer tragen orange." Wirklich? Lustig klingt auch der Slogan von "CHI, CHI, CHI, LE, LE, LE! Los Chile!" Nie mehr Wembley: In Brasilien soll es erstmals keine Fehlentscheidungen mehr darüber geben, ob der Ball nun drin war im Eckigen oder nicht. Dank deutscher Torlinien-Technik. GoalControl heißt das System. Sieben Kameras sind auf je ein Tor gerichtet und filmen, ob der Ball hinter der Linie war. War er drin, vibriert eine Uhr am Handgelenk des Schiedsrichters - und die Fans können jubeln: "Toooor! Toooor! Toooor!" dpa/pbe

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