Kneipe, Kiosk, Kultort: Die Kantine in Velsen

Saarbrücken. Um 11.10 Uhr wandert der Blick zur Uhr, die ersten verlassen den Pensionärs-Stammtisch. Zuhause steht in zehn Minuten das Essen auf dem Tisch. Ganztägig. Denn in der Velsener Kaffeeküch' ist es immer 11.10 Uhr. Hier gehen die Uhren anders, beziehungsweise gar nicht mehr: Das "antike" Kantinen-Exemplar sei vor zwanzig Jahren stehen geblieben, hört man

 Immer noch hauptsächlich ein Ort für Arbeiter: Die Kaffeeküch' der Grube Velsen. Doch auch Familien kommen vorbei. Fotos: Becker&Bredel

Immer noch hauptsächlich ein Ort für Arbeiter: Die Kaffeeküch' der Grube Velsen. Doch auch Familien kommen vorbei. Fotos: Becker&Bredel

Saarbrücken. Um 11.10 Uhr wandert der Blick zur Uhr, die ersten verlassen den Pensionärs-Stammtisch. Zuhause steht in zehn Minuten das Essen auf dem Tisch. Ganztägig. Denn in der Velsener Kaffeeküch' ist es immer 11.10 Uhr. Hier gehen die Uhren anders, beziehungsweise gar nicht mehr: Das "antike" Kantinen-Exemplar sei vor zwanzig Jahren stehen geblieben, hört man. Man darf's symbolisch für diesen aus der Zeit gerutschten Ort nehmen. Welch' ein sonderbarer Mix aus Stammkneipe, Wurstbude, Stehbierhalle und Tante-Emma-Laden. Hier, in der Kantine Velsen, bewegt man sich im Zeitraffer zurück, bis in die 60er Jahre. Das Ungetüm an Ladentheke, das altmodische Eduscho-Regal, die Geldrückgabe-Teller aus Plastik - das alles wirkt wie eine museale Installation. Nur der penetrante Wurstkessel-Geruch sagt: Dieser "Kaufladen" lebt.Zwischen 5.30 Uhr und 18.30 Uhr gibt's hier das, was der Mann gerne auf die Schnelle zu sich nimmt: warme Wiener, Mettbrötchen, Schnitzel-Weck und heißen Lyoner. Außerdem lässt sich Omas Lebensmittelbestand auffüllen: Dosenwurst, Piccolo und abgepackte Marmelade. Zu paradiesischen Preisen, als gäbe es sie noch, die Saarberg-Subventionen für die Kantinen. 1,10 Euro kostet der halbe Liter Karlsberg Bier. Pächterin Elke Orth rechnet mit spitzem Bleistift: "Reich wird man nicht." Das Kundenaufkommen ist seit Jahren rückläufig, begann bereits Jahre vor der Schließung der nahe gelegenen Grube Warndt im Jahr 2006. Mit ihrem Mann hatte Elke Orth bereits in Fenne Werkskantinen-Erfahrung. Nach dessen Tod behielt sie nur Velsen. Sie konnte nicht anders. Das Herz sprach. Bereits als Kind wanderte sie durch den Wald aus Geislautern mit ihrem Vater, einem Bergmann, hierher. Dann gab's Limo. "Hier stecken so viele Erinnerungen drin", sagt sie.

Nicht nur für sie. Vier Stammtische von Bergbau-"Pensionären" finden sich pro Woche ein. Einer tagt gerade. Sportliche Typen sind's, Männer zwischen Mitte und Ende fünfzig. Die typischen Vorruheständler: noch fit und wach und leistungsfähig. Nicht wenige machen einen 400-Euro-Job: Hausmeister- oder Kurier-Dienste. Sie sind stolz. "Bergleute sind gut zu gebrauchen. Wir sind pünktlich und belastbar", sagt Thomas. Alles, was über Tage war, sahen die Jungs früher als "Schonplatz". In den 70ern, als diese Männer bei Saarberg anfingen, wurden noch 1100 Auszubildende eingestellt. Sie reizte ein sicherer Arbeitsplatz mit gutem Einkommen, bei dem man im ersten Lehrjahr dreimal so viel verdiente wie die Schwester im dritten. Am Stammtisch "machen" sie selten Kohle, wie es im Bergarbeiter-Jargon heißt, wenn "Gruwesache" zur Sprache kommen. Auch mit dem Begriff "Erinnerungskultur" können sie nichts anfangen: "Wir leben schließlich noch im Bergbau", sagen sie und entwickeln keinerlei Blutdruck ob der Aussicht, dass Fördertürme geschleift werden müssen. Und obwohl das Velsener Erlebnisbergwerk - der ehemalige RAG Lehrstollen - in Steinwurfnähe zur Kaffeeküch' liegt, ist dessen touristische Nutzung kein Anlass zu Freudensprüngen.

Nostalgie und Traditions-Eifer haben hier offensichtlich keinen Platz. Dabei haben sie alle die goldene Ära noch präsent, als "die Schwarzen" in der Kaffeeküch' ihr Entspannungs-Revier hatten. Damals gab's noch Bier von der Zapfanlage. Der Aufwand lohnt nicht mehr. Die meisten kommen zum Frühstück. Auf den Tischen: Kaffeepötte, Cola, Kakao in Glasflaschen. Geraucht werden muss draußen, dabei war die Kaffeeküch' einst das zentrale Zigaretten-Depot: Unter Tage war rauchen verboten. Also hieß die Losung früher: eine Zigarette, ein Bier, ein "Wurschtweck". Schnell musste es gehen. Zwanzig Minuten lagen zwischen der Ausfahrt aus dem Schacht in Velsen und der Abfahrt der Busse ins nahe gelegene Bergwerk Warndt, wo die größere Waschkaue wartete. Nass, dreckig, verschwitzt drängten sich die Bergleute in den rundum gefliesten Raum, um die Stehtische. Es hallte, es dröhnte. Trotzdem bildeten sich Mehrfach-Reihen vor der Ladentheke. Andere drängten sich vor den geöffneten Fenstern und ließen sich ihr Bier ins Freie durchreichen. Täglich ein Volksfest. "Keine Maus ging hier bei Schichtwechsel mehr rein", sagt Bedienung Dagmar Plöger. Der Ton der Kohle-Jungs war rau und nicht immer herzlich. Plöger vermisst sie nicht.

Die Durchgangsstraße zwischen dem Warndt und Saarbrücken bringt die neue Kundschaft. Die meisten sind auf dem Weg von oder zur Arbeit. Kernige Typen in "Schaffkleidern" beherrschen das Bild. Dachdecker, Malergesellen, Lastwagenfahrer, aber auch Zoll- und Polizeibeamte in Uniform. Allgegenwärtig ist das leuchtende Orange der Leute der Velsener Müllverbrennungsanlage von nebenan. Doch auch Frauen und junge Familien tauchen auf: Die Preise locken und urige Wurstwaren. Auch die neuen Kunden bilden, wie man hört, eine eingeschworene Gemeinde. Regelmäßigkeit ist das Geheimnis: Nach Velsen fährt niemand nur einmal. Dieter Köhler etwa, ein selbstständiger Bauingenieur aus Klarenthal, ist seit drei Jahren Stammgast. Nie hatte er was mit Bergbau zu tun. Er will hier "einen quatschen", freut sich über unkomplizierte Kontakte. "Hier sind alle Menschen gleich", sagt auch ein anderer Besucher. Dass es in der Kaffeeküch', anders als in den üblichen Kneipen, keine Besäufnisse gibt, schätzen alle. Auch Sandra Rupert, die im elften Jahr hinter der Theke steht. Als Kind ist sie mit ihrem Vater, einem Bergmann, bereits in Velsen einkaufen gegangen. "Das gesamte Umfeld ist hier so persönlich", antwortet sie auf die Frage, was sie in Velsen hält. Aber ist das nicht ein ganz und gar "unhipper" Arbeitsplatz? Gerd, ein Saarstahl-Arbeiter, sieht das anders. Er ist das erste Mal hier. "Das hat Charme", sagt er. "Es ist rustikal und kein Standard." Von einem "Kultort" spricht gar der Industriekultur-Experte Delf Slotta. Die Kaffeeküch' ist eine feste Anlauf-Station bei seinen Führungen: "Dieser Ort hat einen hohen Erlebniswert. Er erzählt mehr über die Arbeiterkultur als jedes leere Schlafhaus", sagt Slotta.

Wie lange noch? "Liebe Kunden, entgegen vielfältigen Gerüchten wird die Kantine Velsen zum Jahresende nicht geschlossen", steht auf einem Plakat. Der Pachtvertrag von Elke Orth läuft Mitte 2012 aus, pünktlich zur Mettenschicht. Doch sie verhandelt übers Weitermachen - und ist optimistisch. "Hier sind alle Menschen gleich."

Ein Besucher

der Kantine Velsen

Auf einen Blick

 Zusammen stehen sie für 50 Jahre Thekenarbeit in der Kantine Velsen: Antje Barth (links) und Dagmar Plöger.

Zusammen stehen sie für 50 Jahre Thekenarbeit in der Kantine Velsen: Antje Barth (links) und Dagmar Plöger.

 Rinderkraftbrühe für 1,40 Euro: Moderate Preise locken in die Kantine Velsen.

Rinderkraftbrühe für 1,40 Euro: Moderate Preise locken in die Kantine Velsen.

Die Grube Velsen entstand in preußischen Zeiten (1913-1915). 1965 endete die Kohleförderung in Velsen, die Grube wurde dem Bergwerk Warndt angegliedert. Das Gelände gehört zum Großteil der RAG, außerdem gibt es dort die Müllverbrennungsanlage (AVA) und den Ausbildungs-Lehrstollen (Erlebnisbergwerk). Der unter Denkmalschutz stehende Bestand gliedert sich in Fördergerüst und Maschinenhäuser, Zechenhaus, Pförtnerhaus mit Pferdestall (heute: Kaffeeküch'). Außer in Velsen sind Grubenkantinen nur noch in Ensdorf in Betrieb. ce

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