Kirchen als Wächter des konsumfreien SonntagsHin und her auch in der EU"Sonntage wirken sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus"

Karlsruhe. Die Kirchen jubeln: Mit einem Grundsatzurteil hat das Bundesverfassungsgericht gestern den Schutz der Sonn- und Feiertage vor Konsum und Kommerz zur grundgesetzlichen Pflicht erhoben. Und hat zugleich einen Wächter über deren Einhaltung ernannt - die Kirchen. Es ist ein später Sieg einer eigentümlichen Allianz aus Kirchenfürsten und Klassenkämpfern. Im 19

Karlsruhe. Die Kirchen jubeln: Mit einem Grundsatzurteil hat das Bundesverfassungsgericht gestern den Schutz der Sonn- und Feiertage vor Konsum und Kommerz zur grundgesetzlichen Pflicht erhoben. Und hat zugleich einen Wächter über deren Einhaltung ernannt - die Kirchen.

Es ist ein später Sieg einer eigentümlichen Allianz aus Kirchenfürsten und Klassenkämpfern. Im 19. Jahrhundert hatten Sozialdemokraten und Kirchen jahrelang gegen Reichskanzler Otto von Bismarck für den Schutz des Sonntags gekämpft, um den Arbeitern eine Pause und den Gläubigen Zeit zum Kirchgang zu verschaffen. Der verkaufsfreie Sonntag wurde 1891 in der Gewerbeordnung festgeschrieben.

Von dort lässt sich eine Linie bis zum Karlsruher "Advents-Urteil" des Jahres 2009 ziehen. 1919 wurde der Sonntagsschutz in Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung aufgenommen, wiederum als christlich-sozialdemokratisches Gemeinschaftsanliegen: Sonn- und Feiertage sollten als Tage der "seelischen Erhebung" und der "Arbeitsruhe" geschützt sein. Bei den Vorarbeiten zum Grundgesetz wollte man das heiße Eisen lieber nicht anfassen: Stattdessen verfügte Artikel 140 klammheimlich die Aufnahme der "Weimarer Kirchenartikel" ins Grundgesetz.

Dass Karlsruhe jenen 90 Jahre alten und europaweit einzigartigen Artikel nun mit einer derartigen Wucht wiederbeleben würde, kam am Ende doch überraschend. Es mag auch dadurch begünstigt sein, dass EU-Recht hier ausnahmsweise keinerlei Sperren errichtet - der Sonntagsschutz ist nationale Angelegenheit.

Dabei werden die Öffnungszeiten unablässig ausgeweitet: 1957 kam der "lange Samstag", 1989 der "Dienstleistungsabend", 1996 die Öffnung bis 20 Uhr - die seit 2003 auch samstags gilt. Der nächste Schub kam mit der Föderalismusreform von 2006, die den Ländern Zuständigkeit für die Ladenöffnung zugestand - wovon Berlin umfangreich Gebrauch machte.

Die neue Maxime wird lauten: entzerren und begründen. Acht Shopping-Sonntage pro Jahr sind nach wie vor erlaubt, selbst die Adventszeit ist nicht tabu. Nur eben nicht mehrere hintereinander, ebenso wenig wie feiertägliche 24-Stunden-Öffnungen. "Grundsätzlich hat die typische 'werktägliche Geschäftigkeit' an Sonn- und Feiertagen zu ruhen", so das Gericht. Ausnahmen müssen gut begründet sein.

Das Gericht begründet die Entscheidung mit der "synchronen Taktung des sozialen Lebens", sprich: die Garantie des gemeinsamen freien Tags - für den Familienausflug, für die Pflege von Freundschaften, für das Vereinsleben. Gerade Frauen, die drei Viertel der Beschäftigten im Einzelhandel stellen, sind dem Urteil zufolge durch Job und Familie ohnehin einer Doppelbelastung ausgesetzt.

Die Pointe des Urteils: Die katholische und die evangelische Kirche dürfen diese höchst profanen Ziele aus eigenem Recht in Karlsruhe geltend machen. Das war umstritten im Ersten Senat, drei der acht Richter stimmten dagegen. Die Begründung dafür: der Weimarer Kirchenartikel sei "funktional" auf die Verwirklichung der Religionsfreiheit angelegt. Im Ergebnis heißt das: Die Kirchen sind klagebefugt und haben damit ein Instrument in der Hand, den Schutz des Sonntags vor Konsum und Kommerz durchzusetzen. Kein schlechtes Ergebnis für eine Institution, die - ähnlich wie der andere historische Sonntagsschützer, die SPD - mit dem Bedeutungsverlust zu kämpfen hat.Hat Karlsruhe dem Profitdenken des Einzelhandels ein wenig die Grenzen aufgezeigt?

Pellengahr: Nein. Der Einzelhandel ist weit davon entfernt, alles dem Profit unterzuordnen. Wir wollen ja lediglich einzelne verkaufsoffene Sonntage über das Jahr verteilt haben. Und das bleibt auch nach dem Urteil möglich.

Warum sind ausgerechnet die Adventssonntage bisher für ihre Branche so wichtig gewesen?

Pellengahr: Es geht um Berlin. Hier sind Tausende von Touristen in der Stadt, hier ist es am Sonntag so voll wie anderswo an Freitagen oder Samstagen. Von Ruhe und Beschaulichkeit kann da keine Rede sein. Die Sonntagsruhe in Berlin wird durch den Einzelhandel daher am allerwenigsten gestört. Aber das Urteil ist nun gesprochen. Und danach kann es künftig immerhin noch einzelne verkaufsoffene Adventssonntage mit entsprechender Begründung geben. Positiv ist auch, dass es kein Verbot im laufenden Weihnachtsgeschäft gegeben hat.

Die Gewerkschaften sehen in dem Urteil auch einen besseren Arbeitnehmerschutz. Sehen Sie das auch so?

Pellengahr: Nein. Es melden sich mehr Beschäftigte für die Sonntagsarbeit als tatsächlich eingesetzt werden können. Das hat zu tun mit den Zuschlägen von hundert Prozent, die Mitarbeiter am Sonntag auch noch steuerfrei erhalten.

Sind durch die verkaufsoffenen Sonntage neue Arbeitsplätze entstanden?

Pellengahr: Sicherlich. Die Sonntage haben einen positiven Einfluss auf die Beschäftigungslage im Einzelhandel.

Viele kleinere Betriebe können sich Öffnungszeiten am Sonntag gar nicht leisten. Ist das nicht eine Wettbewerbsverzerrung?

Pellengahr: Nein, es sind gerade die kleineren Betriebe, die die geringeren Personalkosten haben, die viel leichter am Sonntag öffnen können. Die großen Unternehmen mit vielen Beschäftigten und Mitarbeitervertretungen haben eher Probleme, die Zustimmung zu einer Öffnung zu bekommen. Das ist keine Frage von Groß und Klein, sondern eine Frage des Standorts. Brüssel. Es war ein klares Bekenntnis zum arbeitsfreien Sonntag, das die Verfasser der ersten Arbeitszeit-Richtlinie der EU ablegten: Die wöchentliche Mindestruhezeit "schließt grundsätzlich den Sonntag ein", notierten sie 1993.

Doch der Frieden hielt nicht lange. Im November 1996 kippte der Europäische Gerichtshof zum Entsetzen vieler die Regelung. Die Minister der EU hätten - so argumentierten die Luxemburger Juristen - "nicht dargetan, warum der Sonntag als wöchentlicher Ruhetag in engerem Zusammenhang mit der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer stehen solle als ein anderer Wochentag". Tatsächlich hatten die Autoren der ersten Richtlinie dies übersehen.

Inzwischen liegt die Reform auf dem Tisch, die ursprünglich ebenfalls keine Regelung über den Sonntag enthielt. Das wurde längst nachgeholt, schließlich hat die EU-Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz Mitte letzten Jahres in einer Studie nachgewiesen, dass die psychische Gesundheit eines Arbeitnehmers durch Sonntagsarbeit gravierend beeinträchtigt wird und sich außerdem die Zahl von Unfällen am Arbeitsplatz deutlich erhöht. Daraufhin wurde der Text der neuen Arbeitszeit-Richtlinie geändert, so dass 2010, wenn das Dokument verabschiedet werden soll, der Sonntag als grundsätzlicher Ruhetag festgeschrieben wird.

Dieses Mal gibt es dazu auch eine Begründung: "Die Gesundheit der Arbeitnehmer hängt neben anderen Faktoren von ihrer Möglichkeit ab, Beruf und Familienleben zu vereinbaren, soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen und spirituellen Bedürfnissen nachzukommen. Als traditioneller wöchentlicher Ruhetag trägt der Sonntag zu diesen Zeilen mehr bei als jeder andere Tag in der Woche." dr

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