"Kirche erinnert Politik an ihre Verantwortung"

Saarbrücken

 Für den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, sind Steuersenkungen ein falsches Signal. Foto: Dietze

Für den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, sind Steuersenkungen ein falsches Signal. Foto: Dietze

Saarbrücken. Er liest den Finanzmarkt-Jongleuren kräftig die Leviten, warnt vor den sozialpolitischen Verwerfungen einer wachsenden Staatsverschuldung und ermuntert seine Kirche, nicht nachzulassen im Dienst am Menschen: Es ist eine breite Palette politischer, kirchlicher und ethischer Fragen, die der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, beim SZ-Redaktionsgespräch beantwortet.Seit dem Rücktritt von Margot Käßmann im Februar vergangenen Jahres steht Schneider an der Spitze des deutschen Protestantismus. Offiziell seit seiner Wahl im November. Äußere Zeichen: ein proppenvoller Terminkalender und jede Menge Autokilometer und Flugmeilen.

Ja, der Präses der rheinischen Landeskirche ist ein Mann der klaren Worte. Ohne Schnörkel, ohne Umschweife. "Eigentlich ist das Casino nie so richtig geschlossen worden", analysiert er die Situation nach der Weltfinanzmarktkrise. "Bitter" nennt er, dass jene, die die hohe Staatsverschuldung ausgelöst haben, zum Abtragen der Schulden so gut wie nichts beigetragen haben. "Das ist einfach ungerecht", so der Kirchenmann.

Und angesichts wachsender Staatsverschuldung "flott und ständig Steuersenkungen zu fordern", sei nicht nachvollziehbar, qualifiziert Schneider Forderungen aus dem liberalen Lager. "Natürlich, die Steuerquellen sprudeln kurzfristig wieder", räumt er ein. Deshalb solle man die gute konjunkturelle Lage nutzen, um die Verschuldung zu senken, was den nachfolgenden Generationen zugute komme.

Apropos Finanzen. Ob man Griechenland mit neuen Milliarden-Hilfen vor dem Bankrott retten sollte? "Ein schwieriges Thema", befindet der 63-jährige Rats-Chef. Er erinnert an das Sündenregister der Hellenen wie ein nur mäßig funktionierendes Finanzsystem. "Doch theologisch betrachtet sind wir zur Hilfestellung verpflichtet, unabhängig von Schuld", urteilt Schneider. Dabei müsse neben dem Fördern aber auch das Fordern stehen, damit das Land aus eigener Kraft auf die Beine komme.

Das liebe Geld beschäftigt auch die evangelische Kirche. "Bei weniger Gemeindemitgliedern und rückläufigen Kirchensteuereinnahmen passen wir uns der Situation an", antwortet der Theologe auf Fragen zu Kirchen- und Kindergartenschließungen. "Wir gehen realistisch mit unseren finanziellen Gegebenheiten um", stellt der Spitzenrepräsentant der 25 Millionen Protestanten in Deutschland fest.

Die rückläufige Zahl der Kirchenmitglieder sei vor allem auf die demografische Entwicklung zurückzuführen, analysiert er. Für Schneider auch klar: Es sei der Kirche bisher nicht gelungen, "viele Menschen innerlich so zu binden, dass sie bei einem finanziellen Engpass nicht auf die Idee kommen, bei der Kirchensteuer zu sparen". Viele Austritte seien auch auf die "allgemeine Unzufriedenheit mit diesem oder jenem in der Kirche" zurückzuführen.

Themenwechsel: Missbrauchsfälle. Ja, Schneider räumt ein: Das Thema hat zu einer "enormen Vertrauenskrise" gegenüber den beiden großen Kirchen und auch zu Austritten geführt. Dabei sei die katholische Kirche noch stärker betroffen, da sie durch den Zölibat - obwohl dieser nicht entscheidend sei - eine weitere "Projektionsfläche" biete. Seit 2002 seien in der evangelischen Kirche "50 Fälle sexualisierter Gewalt" aufgedeckt worden. "Seit dieser Zeit gehen wir nach einem genau festgelegten Verfahren vor, das die Beratung für die Betroffenen und die juristische Ermittlung voneinander trennt", erläutert Schneider.

Es sind vor allem die sozialpolitischen Äußerungen, die Schneider in den vergangenen Jahren viel Renommee eingebracht haben. Vor diesem Hintergrund verfolgt er mit großem Interesse die Arbeit der Jamaika-Regierung im Saarland, findet die Situation "außerordentlich spannend". "Wir machen nicht Politik, aber wir erinnern an die Verantwortung der Regierenden", sagt er zur Frage, wie politisch Kirche überhaupt sein dürfe. "Klassisch biblisch" gehe es vor allem darum, "für jene Menschen die Stimme zu erheben, die unter die Räder zu geraten drohen". Für diese Anliegen hofft er auf ein offenes Ohr bei der designierten Regierungschefin, Sozialministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Und verweist mit Bezug auf den jüngsten Beschluss der Synode der beiden Saar-Kirchenkreise auf die Situation minderjähriger Flüchtlingskinder im Saarland, die verbesserungswürdig sei.

Zur Person

Nikolaus Schneider (63) ist seit November 2010 Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland. Bereits nach dem Rücktritt von Margot Käßmann im Februar übernahm er kommissarisch das Amt. Der Präses der evangelischen Kirche im Rheinland gilt als sozial kompetent, seine sozialpolitischen Äußerungen finden Gehör. Der Theologe ist verheiratet und Vater dreier Töchter. gp

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