Kindsmörder Gäfgen ist ein Folteropfer

Brüssel. Im Fall des Kindsmörders Magnus Gäfgen (35) hat die Polizei gegen das absolute Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Dennoch muss der Prozess wegen der Ermordung des elfjährigen Jakob von Metzler vor acht Jahren nicht noch einmal aufgerollt werden

 Jean-Paul Costa, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, gestern bei der Verhandlung.

Jean-Paul Costa, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, gestern bei der Verhandlung.

Brüssel. Im Fall des Kindsmörders Magnus Gäfgen (35) hat die Polizei gegen das absolute Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Dennoch muss der Prozess wegen der Ermordung des elfjährigen Jakob von Metzler vor acht Jahren nicht noch einmal aufgerollt werden. Mit diesem Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGFM) in Straßburg gestern einen Schlussstrich unter den Versuch des Täters gezogen, aus der Androhung von Gewalt während eines Verhörs Kapital zu schlagen. Zwei Polizeibeamte hatten ihm "besondere Schmerzen" angekündigt, falls er nicht das Versteck des entführten Bankierssohnes verraten würde. Sie mussten unmittelbar nach der Verhaftung davon ausgehen, dass der Junge noch leben würde. Tatsächlich hatte Gäfgen ihn schon Tage vorher umgebracht.

Folterverbot ist absolut

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zeigte sich mit dem Richterspruch zufrieden. "Das Folterverbot gilt absolut. Die Menschenwürde ist das kostbarste Gut der Menschenrechte und Grundlage unseres gesamten Rechtssystems. Diese rote Linie darf niemals überschritten werden." Doch so einfach ist das Urteil nicht. Die Straßburger Juristen lehnen es sogar ab, das Vorgehen der Polizei als Folter zu bezeichnen. "Die unmittelbaren Drohungen waren schwerwiegend genug, um als unmenschliche Behandlung im Sinn des Artikels 3 der Menschenrechtskonvention zu gelten", heißt es im Urteil. Aber sie erreichten nicht "einen solchen Schweregrad, dass sie als Folter gelten könnten".

Auch die Hoffnung des Kindesmörders, das Gericht könnte die deutschen Kollegen zu Schadenersatz für die erlittene "schwere Traumatisierung" (Gäfgen) drängen, erfüllte sich nicht. Der EGFM forderte die hiesigen Gerichte lediglich auf, das nunmehr seit drei Jahren andauernde Verfahren "zügig zu beenden". Im Übrigen bezweifelte das Gericht, ob die bisherige Bestrafung gegen die beiden Ermittlungsbeamten, die lediglich verwarnt worden waren, "abschreckend genug" sei, um "vergleichbaren Konventionsverletzungen vorzubeugen".

Entscheidend aber ist, dass es zu keiner Neuauflage des Verfahrens kommen muss. Der Prozess sei nämlich "im Ganzen fair" verlaufen. Schließlich habe das deutsche Gericht sich bei der Verurteilung auf ein erneutes Geständnis des Täters im Verfahren gestützt. Gäfgens Anwalt Michael Heuchemer hatte dagegen argumentiert, sein Mandant sei aufgrund von Beweisen zu lebenslanger Haft verurteilt worden, die nur durch die Aussagen unter Zwang hätten gefunden werden können. Die Familie von Metzler, so sagte deren Anwalt Eberhard Kempf, "ist jetzt nur sehr erleichtert, dass es keinen neuen Prozess geben wird".

Verständnis für Polizei

Der Gerichtshof habe sich gegen "jeden Versuch gestemmt, die Menschenrechte für Straftäter einzuschränken", kommentierten Beobachter in Straßburg. Der Artikel 3 der Konvention ("Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden") lasse keine Ausnahme zu. Dennoch bemühten sich die Richter gestern auch um Verständnis für den Konflikt der Polizei, die offenbar kein anderes Mittel mehr sah, um den Täter zum Reden zu bringen und dadurch den vermeintlich noch lebenden Jungen zu retten. "Der vorliegende Fall ist nicht vergleichbar mit Beschwerden über brutale Willkürakte von Staatsbeamten. Denn die Beamten handelten ja in der Absicht", das Opfer doch unversehrt finden zu können.

Meinung

Urteil hilft nicht für die Praxis

Von SZ-Korrespondent

Detlef Drewes

Das Urteil macht ratlos. Niemand wird ernsthaft das strikte Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention in Frage stellen wollen. Und dennoch bleibt ein ungutes Gefühl, wenn ein Täter für sich einen Schutz in Anspruch nimmt, den er selbst seinem Opfer nicht zugestanden hatte.

Die Hüter der Menschenrechte in Straßburg haben ein richtiges Urteil gefällt. Aber es ist keines, das den Zielkonflikt wirklich löst. Denn der heißt klar: Muss die Menschenwürde des Täters notfalls auf Kosten des Opfers geschützt werden? Es fällt schwer, darauf mit einem klaren Ja zu antworten. Aber auch ein Nein kommt nicht leicht über die Lippen. Wie würde man über die Ermittlungsbeamten urteilen, wenn sie den damals nur Verdächtigen mit Samthandschuhen angefasst hätten, für das Opfer aber nur wenige Minuten zu spät gekommen wären?

Das gestrige Urteil ist theoretisch richtig, in der Praxis aber hilft es nicht weiter. Das ist das eigentlich Bedrückende - nicht an dem Richterspruch, sondern an der Realität.

 Magnus Gäfgen stand 2003 wegen Mordes an dem elfjährigen Jakob vor Gericht. Das Urteil: lebenslänglich. Fotos: dpa

Magnus Gäfgen stand 2003 wegen Mordes an dem elfjährigen Jakob vor Gericht. Das Urteil: lebenslänglich. Fotos: dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort