Kinder auf der Flucht ins gelobte Land

Mexiko-Stadt · Im vergangenen Jahr sind fast 60 000 Kinder und Jugendliche aus Mittelamerika in die USA illegal eingewandert. Sie fliehen vor Armut und Gewalt in ihren Ländern. Viele finden auf der Flucht aber nur den Tod.

Gilberto Ramos war 15, als sein Leben endete. Irgendwo in der Wüste zwischen Mexiko und den USA, wo die Sonne im Juli ohne Gnade vom Himmel brennt. Der Junge aus Guatemala hatte es fast geschafft ins gelobte Land. Nach mehr als 2000 Kilometern und zwei Monaten zu Fuß, im Bus und auf Güterzügen. Zwei Monate voller Angst vor der "Migra", der mexikanischen Ausländerpolizei und dem Organisierten Verbrechen. Ihnen konnte er noch entkommen, aber der Wüste nicht mehr.

Gilberto stammte aus dem kleinen Ort San José Las Flores in Huehuetenango im armen Hochland Guatemalas. Von dort wollte er bis nach Chicago zu seinem älteren Bruder. Denn daheim brauchen sie mehr Geld für Medikamente, weil die Mutter unter Epilepsie leidet. Und der Anbau von Bohnen und Mais reicht für die Familie gerade, um satt zu werden. Also schickte Vater Francisco Ramos auch Sohn Gilberto auf die lange und gefährliche Reise. Es war der 17. Mai und der letzte Tag, an dem der Vater seinen Sohn lebend sah.

Niemand weiß, wie viele Kinder und Jugendliche das Schicksal von Gilberto teilen. Die meisten Opfer behält die Wüste für sich. Aber es müssen viele sein. Denn besonders in den vergangenen Monaten sind zehntausende Kinder aus Mexiko, Honduras , Guatemala und El Salvador unterwegs in den Norden. Sie fliehen vor Horror und Hoffnungslosigkeit in ihrer Heimat. Das Ziel sind immer die USA, das gelobte Land, da wollen sie ihre Träume erfüllen, ihre Verwandten finden oder einfach nur Geld verdienen. Die ältesten Flüchtlinge sind 17 Jahre alt, die jüngsten kaum acht.

Jeden Tag erreichen fast 200 unbegleitete junge Zentralamerikaner die USA. In den zehn Monaten seit Oktober sind es schon 58 000. Das sind mehr Menschen, als in den 80er Jahren während der Bürgerkriege aus El Salvador , Nicaragua und Guatemala flohen.

Wenn die Kinder nicht vom US-Grenzschutz aufgegriffen werden, begeben sie sich oft freiwillig in die Obhut der Polizei . Denn in ihren Heimatländern kursiert das Gerücht, dass sie als Minderjährige vor Abschiebung sicher seien. Aber ihnen wird lediglich eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis zugestanden, bis ein Gericht über das Bleiberecht entscheidet. Anders als bei mexikanischen Minderjährigen, die umgehend abgeschoben werden können, muss bei Zentralamerikanern, die in der US-Behördensprache OTM ("Other than Mexicans") heißen, geprüft werden, ob es Angehörige in den USA gibt. Dies kann bis zu einem Jahr dauern, was den Heranwachsenden die Möglichkeit gibt, abzutauchen. Längst haben die US-Bundesstaaten an der 3000 Kilometer langen Südgrenze angesichts des täglichen Zustroms den Notstand ausgerufen und fordern Hilfe bei der Regierung in Washington. Schon jetzt wissen Grenzschützer und Sozialarbeiter im Süden der USA nicht, wohin mit den Kindern. Die Notunterkünfte sind überfüllt, die Gerichte überlastet. Die vorübergehende Verlegung in andere Bundesstaaten scheitert oft am Widerstand der Gemeinden. Diese weigern sich, die Minderjährigen aus Zentralamerika vorübergehend aufzunehmen.

Hilfsorganisationen fordern von den USA, die Kinder als Flüchtlinge anzuerkennen und ihnen Schutz zu gewähren: "Die humanitäre Katastrophe spielt sich nicht an der US-Grenze, sondern in den Herkunftsstaaten ab", sagt Dieter Müller , Mittelamerika-Referent von "Medico international". "Solange dort Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit vorherrschen, wird auch die Nationalgarde die Kinder und Jugendlichen nicht aufhalten."

Denn neben der Armut wie im Fall von Gilberto aus Guatemala treibt die Minderjährigen auch die Gewalt in ihren Ländern in die Flucht. Honduras , El Salvador und Guatemala gehören zu den tödlichsten Ländern der Welt und drohen im Chaos zu versinken, weil Jugendbanden und organisiertes Verbrechen den Staat mancherorts als Ordnungsfaktor verdrängt haben. Vergangenes Jahr zählten die Behörden in diesen drei Ländern 15 328 Morde. Mordraten von 90 pro 100 000 Einwohner sind in Honduras üblich, in manchen Städten sind es sogar bis zu 160 Mordopfer.

So lange sich die Verhältnisse in Zentralamerika nicht ändern, werden weiter Tausende Jugendliche ihr Heil in der Flucht suchen. Und viele von ihnen enden so wie Gilberto Ramos aus Guatemala . Nicht weit von McAllen, Texas fanden die Grenzschützer seinen ausgedorrten Körper und schickten ihn zurück in die Hauptstadt Guatemala City. Von dort hat der Vater dieser Tage die sterblichen Überreste seines Sohnes nach San José Las Flores heimgeholt. Francisco Ramos erkannte seinen Sohn vor allem an dem Gürtel. In der Schnalle war die Telefonnummer des Bruders in Chicago eingeritzt.

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HintergrundUS-Präsident Barack Obama hat gestern mit seinen Kollegen aus Honduras , El Salvador und Guatemala über den Zustrom minderjähriger Migranten ohne gültige Papiere aus Mittelamerika beraten. Nach Angaben des Weißen Hauses wollte Obama mit Juan Orlando Hernández, Salvador Sánchez Cerén und Otto Pérez Molina erörtern, "wie die Vereinigten Staaten und zentralamerikanische Regierungen sichere, rechtmäßige und geordnete Migration befördern können". Seit vergangenem Oktober kamen rund 58 000 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung eines Erwachsenen illegal über die Grenze in die USA. Anfang des Monats beantragte Obama beim Kongress eine Sonderfinanzierung 2,7 Milliarden Euro, um mit der "dringenden humanitären Situation" umzugehen. Damit soll die Unterbringung der Kindermigranten gewährleistet werden, außerdem will das Weiße Haus mit mehr Asylbeamten und Richtern den Abschiebeprozess beschleunigen. afp

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