Interview Asli Erdogan „Kein Land ist vor so etwas sicher“

Metz · Verfolgt und weggesperrt: Eine türkische Autorin über das, was es bedeutet, in der Türkei Journalist zu sein.

 Der Regierung in ihrem Heimatstaat ist sie zu kritisch: Die türkische Autorin Asli Erdogan musste wegen ihrer Arbeit für mehrere Monate in Haft.

Der Regierung in ihrem Heimatstaat ist sie zu kritisch: Die türkische Autorin Asli Erdogan musste wegen ihrer Arbeit für mehrere Monate in Haft.

Foto: dpa/Arne Dedert

Fünf Monate saß die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan in Haft. Nun lebt sie in Deutschland. Wir trafen die Autorin kürzlich bei einem Besuch der Metzer Buchmesse „Le Livre à Metz“. Dort erzählte sie der SZ, warum immer mehr Journalisten in ihrer Heimat im Gefängnis sitzen und der türkische Präsident dennoch an der Macht bleibt.

Frau Erdogan, Sie wurden im August 2016 wegen Ihrer Tätigkeit als Kolumnistin und Beiratsmitglied der türkisch-kurdischen Zeitung „Özgür Gündem“ verhaftet. Was wird Ihnen genau vorgeworfen?

ERDOGAN Propaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Hatten Sie damit gerechnet?

ERDOGAN Die Regierung wollte mich schon lange verhaften, weil sie Probleme mit mir hatte. Aber in meinen Artikeln konnten sie nichts Illegales finden. Also haben sie so lange gesucht, bis sie herausgefunden haben, dass ich Mitglied im Beirat der „Özgür Gündem“ war. Jetzt ist sie verboten, aber zum Zeitpunkt meiner Verhaftung hatte es diese Zeitung schon seit 23 Jahren gegeben, sie war vollkommen legal. Und ich gehörte bereits fünf Jahre zum Beirat, als ich festgenommen wurde. Im März 2016 hielt Präsident Erdogan eine Fernsehansprache. Das war kurz nachdem ich über die Stadt Cizre geschrieben hatte. In seiner Ansprache sagte er, auch Schriftsteller sollten sich fürchten, sie würden schlechter behandelt werden als Terroristen. Er nannte keine Namen, aber ich fühlte mich bedroht. Meine Leute sagten, ich sei paranoid und für Erdogan nicht so wichtig. Doch im August wurde ich verhaftet. Er hatte sein Wort gehalten.

Im Dezember 2016 kamen Sie frei, im September 2017 durften Sie aus der Türkei ausreisen. Dort läuft der Prozess gegen Sie weiter. Fühlen Sie sich jetzt frei?

ERDOGAN Natürlich nicht. Ich wurde freigelassen, aber nicht freigesprochen. Der Prozess geht weiter und weiter. Er dauert schon zwei Jahre. Zusätzlich zu einer lebenslangen Haftstrafe sind weitere Forderungen dazugekommen. Einmal zehn Jahre und einmal 7,5 Jahre Haft. Also lebenslänglich plus 17,5 Jahre. Das ist verrückt.

Auch der deutsche Journalist Deniz Yücel saß lange im Gefängnis. Wie in Ihrem Fall wurde er freigelassen, es laufen aber noch Ermittlungen gegen ihn. An dem Tag seiner Freilassung bekamen sechs türkische Journalisten lebenslange Haftstrafen. War der politische Druck nicht groß genug, um auch diese zu retten?

ERDOGAN Ich kenne Deniz Yücel. Auch wenn er viel zu lange im Gefängnis gesessen hat, haben wir alle gewusst, dass er schließlich freikommt, weil er deutscher Staatsbürger ist. Bei den sechs anderen sieht es anders aus. Einer von ihnen ist Ahmet Altan. Wie ich ist er Schriftsteller und Kolumnist. Das ist sehr wichtig, dies zu betonen, denn es zeigt die Eskalation. Zuerst haben sie Chefredakteure und Redakteure verhaftet, dann Kolumnisten, Künstler, Akademiker, und es geht immer weiter. Ahmet Altan ist sehr bekannt. Manche hassen ihn. Ich hasse manche seiner Positionen. Dass er lebenslang bekommen hat, soll eine Signalwirkung erzeugen. Eine andere Frau, die an diesem Tag die gleiche Strafe bekommen hat, ist 74 Jahre alt. Sie war im gleichen Gefängnis wie ich. Wie soll sie mit 74 Jahren einen Staatsstreich organisiert haben? Das ist einfach nur krank.

Was können die Öffentlichkeit und die Journalisten hier machen, damit das Schicksal dieser Menschen nicht vergessen wird?

ERDOGAN Das ist eine sehr schwierige Frage. Das Einzige, was man machen kann, ist darüber zu schreiben. Die türkische Presse ist sehr still, wenn sie nicht schon im Gefängnis sitzt. Viele ausländische Journalisten wurden auch verhaftet und wieder freigelassen, haben aber ihre Akkreditierungen verloren. Ich denke, dass die Menschen in Deutschland und Frankreich nicht wissen, welches Ausmaß die Situation in der Türkei annimmt. Ich meine, zum ersten Mal ist der ganze Justizapparat kollabiert. Ich habe die Junta erlebt. Sogar Anwälte sagen, dass es unter der Junta besser war, weil man manchmal Glück hatte, einen ehrlichen Richter zu bekommen. Zurzeit sitzen aber 2000 bis 4000 Richter und Staatsanwälte selbst im Gefängnis. Um den Richtermangel zu beheben, wurden dann alle Uniabsolventen direkt angestellt. Früher musste man 20 Jahre Berufserfahrung als Richter vorweisen, um in der Kammer zu arbeiten, welche die höchsten Strafen verhängen darf. In meinem Prozess saß dort ein Richter, der nicht älter als 25 war. Es ist einfacher, Uniabsolventen zu kontrollieren, die noch keine Erfahrung haben. Sie wissen, wenn sie nicht das machen, was von ihnen erwartet wird, werden sie am nächsten Tag gefeuert. Das Urteil gegen Ahmet Altan ist ein Zeichen für den Zusammenbruch der Justiz. Er wurde ohne Beweise, ohne eine vernünftige Anklage verurteilt. Weil er unterschwellige Botschaften im Fernsehen gesendet haben soll. Unterschwellige Botschaften. Das klingt wie ein Witz. Dafür bekam er aber lebenslang.

Warum ist Präsident Erdogan trotzdem in der Bevölkerung so beliebt?

ERDOGAN Er spielt die Karte der Türkei als starke Nation. Menschen wollen sich mit Gewinnern identifizieren, nicht mit Verlierern. Ich hätte nie gedacht, dass sich die Situation so entwickelt. Als Erdogan zum ersten Mal gewählt wurde, war das die demokratischste Zeit in meinem ganzen Leben.

Was hat sich geändert? Trägt die EU eine Mitschuld, dass sie bei den Beitrittsverhandlungen so zaghaft war?

ERDOGAN Es war natürlich nicht sehr hilfreich. Aber es wäre falsch, der EU die alleinige Schuld an diese Entwicklung zu geben. Erdogan hat das Ganze sehr gut instrumentalisiert. Er hat den Menschen Stolz und Identität gegeben, und das ist ihnen mehr wert als Gleichberechtigung, Freiheit oder Gerechtigkeit. Viele Menschen wollen sich einfach gegenüber anderen überlegen fühlen. Gegenüber Kurden, Arabern, Schwarzen, Frauen oder wem auch immer. Deshalb ist aber kein Land vor solchen Entwicklungen sicher. Kein Land der Welt sollte denken, dass es dazu viel zu demokratisch ist. Das wäre ein großer Fehler.

Können Sie sich vorstellen, zurück in die Türkei zu ziehen?

ERDOGAN Ich habe jetzt eine Autoren-Residenz für zwei Jahre in Frankfurt. Was danach kommt, ist ein großes Fragezeichen. Aber wenn ich zurückkomme, lande ich zu 95 Prozent im Gefängnis. Und ich habe keinen Grund zu denken, dass sich die Lage verbessern wird. Erdogan wird die nächste Wahl gewinnen, und dann kann ihn nichts mehr stoppen.

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