Kalkuliert – kontrolliert

Der starke Satz, der alle Debatten beendet, war noch nie Angela Merkels Ding. Weil sie weiß, dass mit solchen Sätzen die Debatten meist erst anfangen. Wie zum Beweis gab es nach ihrer Äußerung vom Montag, der Islam gehöre zu Deutschland, sofort innerparteiliche Diskussionen.

Gestern im Bundestag relativierte die Kanzlerin ihre Worte schon wieder, um die Gemüter zu beruhigen. Merkel ist kein Basta-Kanzler wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder . Und wird es wohl auch nicht mehr.

Zunächst las die Kanzlerin vor, was der damalige Bundespräsident Christian Wulff am Tag der Deutschen Einheit im Jahr 2010 gesagt hatte und wiederholte, dass sie den Gedanken unterstütze. Das Christentum gehöre zweifelsfrei zu Deutschland, das Judentum auch. "Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland". Merkel fügte noch "Zitat Ende" hinzu, da brandete schon starker Beifall unter der Reichstagskuppel auf. Überall, bei Linken, Grünen, Sozialdemokraten, verbotenerweise sogar bei den Schülergruppen auf der Zuhörertribüne. Nur nicht in ihrer eigenen CDU/CSU-Fraktion. Die komplette Unionsspitze, von Volker Kauder bis Gerda Hasselfeldt , schwieg eisern. Einzig in den hinteren Reihen rührten sich ein paar Hände.

Merkel wäre nicht Merkel, wenn sie jetzt mit dem Kopf durch die Wand gegangen wäre. Sie will nicht polarisieren, sondern zusammenhalten, vor allem ihre eigene Partei. Sie wisse, setzte sie den Gedanken fort, dass viele Menschen unsicher seien bezüglich des Islam , das sei sie auch. Und dass viele sich fragten, welche Art von Islam sie meine, wenn sie so rede. Auch den, in dessen Namen Terror verübt werde? "Ich halte eine Klärung dieser Fragen durch die Geistlichkeit des Islam für wichtig, und ich halte sie für dringlich. Ihr kann nicht länger ausgewichen werden". Jetzt klatschten alle.

Viele Beobachter meinten schon, in den letzten Wochen eine neue Angela Merkel entdeckt zu haben, eine, die öfter mal klare Kante zeigt. Tatsächlich hatte es eine kleine Häufung von relativ harten Aussagen der Kanzlerin gegeben. Mitte November in Australien, als sie Russlands Präsident Putin vorwarf, das internationale Recht mit Füßen zu treten. Dann in der Neujahrsansprache, als sie den Pegida-Organisatoren "Kälte, ja sogar Hass in den Herzen" unterstellte. Schließlich Wulffs Islam-Satz. Doch ist es wohl nur die zufällige Häufung der Ereignisse, die ihr Derartiges abverlangt hat. Merkel hat Grundsätze. Einer ist ihr Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für den Holocaust und zu Israel. Früher hat sie sich deshalb schon einmal mit dem Papst angelegt. Ein weiterer Leitsatz ist der Zusammenhalt der Bürgergesellschaft gegen Ideologien und religiösen Hass. Da traf ihre harte Kritik zum Beispiel im Jahr 2010 bereits Thilo Sarrazin , so wie sie jetzt Pegida traf. Merkel hält die Mitte, sie ist in einem bürgerlich-protestantischen Milieu aufgewachsen und zu Hause. Sie mag und versteht die Ideologen nicht. Die Anschläge von Paris haben sie zudem ganz persönlich betroffen gemacht. Vor allem war sie schwer beeindruckt, als sie am Sonntag bei der Demonstration der Millionen an der Seine sah, wie sehr Frankreich verletzt war und wie sehr es zusammenhielt. Die Szenen, in denen sie sich tröstend an François Hollande anlehnte, waren nicht gespielt, wenn auch die ganze Situation gestellt war.

Aber Merkel redet bei aller Emotion nach wie vor nie aus dem Bauch heraus, wie Schröder es öfter getan hat. Nie nur als Person Angela Merkel, sondern immer auch als Kanzlerin. Ihr ist bewusst, dass jeder ihrer Sätze auf der Goldwaage liegt. Im Ausland, bei den Deutschen, in ihrer Partei. Sie bleibt immer kontrolliert. Deshalb hat sie bei Putin lange gewartet und auch bei Pegida. Sie wollte die Dresdener Bewegung anfangs nicht aufwerten. Freilich, sie wollte auch nicht als Feigling gelten, als es dann in der Neujahrsansprache darum ging, eine Bilanz zu ziehen.

Hinzu kommt: Merkel redet ganz selten frei, auch gestern im Bundestag nicht. Ihre Ansprachen werden vorher im Kanzleramt entworfen und gehen durch zahlreiche Hände. Und am Ende entscheidet sie bei den neuralgischen Formulierungen zusammen mit ihren engsten Mitarbeiterinnen immer noch selbst, ob und wie sie etwas sagt. Alles ist also sehr genau kalkuliert, fast nichts Zufall. Den Islam-Satz am Montag las sie zwar nicht vom Blatt. Doch fiel er bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem türkischem Premier Davutoglu, und es war klar, dass es angesichts der türkischen Sorgen um eine zunehmende Islamophobie in Deutschland eine entsprechende Frage geben würde. Als sie kam, war Merkel vorbereitet: Ebenso wohlkalkuliert wie sie dort sagte, der Islam gehört zu Deutschland, relativierte sie den Satz gestern wieder.

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