Kämpfer gegen das Vergessen

Aus dem achten Stock des "Century 21"-Gebäudes kann Lee Ielpi in Zeitlupe verfolgen, wie sich der Ort verändert, an dem sein Sohn Jonathan am 11. September 2001 starb. Der heute 67-Jährige kam damals nach New York, um seinen Sohn - einen Feuerwehrmann - in den Trümmern zu suchen. Seitdem hat er Ground Zero nicht mehr verlassen

Aus dem achten Stock des "Century 21"-Gebäudes kann Lee Ielpi in Zeitlupe verfolgen, wie sich der Ort verändert, an dem sein Sohn Jonathan am 11. September 2001 starb. Der heute 67-Jährige kam damals nach New York, um seinen Sohn - einen Feuerwehrmann - in den Trümmern zu suchen. Seitdem hat er Ground Zero nicht mehr verlassen. Heute ist er Präsident der größten Organisation von Angehörigen der Terror-Opfer. "Es geht voran", freut sich der zierliche Mann, der vor seiner Pensionierung selber in die obersten Ränge der New Yorker Feuerwehr aufgestiegen war. "Es gibt viele positive Entwicklungen. Ich bin zufrieden."Während des langen Gesprächs über den bevorstehenden Jahrestag behält Ielpi, halb dem Panoramafenster seines Büros zugewandt, das quirlige Geschehen an Ground Zero ständig im Blick. Das Kommen und Gehen der Betonmischer und Baufahrzeuge, die Drahtkörbe, die Arbeiter an der Außenfassade des "Freedom Towers" (Freiheitsturm) bereits mehr als 70 der künftig einmal 104 Stockwerke hochziehen. Und das geschäftige Treiben an dem Denkmal für die fast 3000 Toten des 11. September, das zum Jahrestag am Sonntag eingeweiht werden soll. Obwohl Ielpi seit zehn Jahren Ground Zero nicht verlassen hat, werden die Feierlichkeiten, zu denen Präsident Barack Obama und dessen Vorgänger George W. Bush kommen, ein schwieriger Tag. "Ich wünschte, es gäbe eine Pille, mit der ich meine Erinnerung löschen könnte", gesteht er. "Es schmerzt."

Wenige Stunden nach dem Einsturz der Zwillingstürme hatte der Pensionär seine Uniform entmottet. Er und acht andere Väter von Feuerwehrleuten suchten Tag für Tag stundenlang nach ihren vermissten Söhnen. Sie stocherten mit Suchstangen durch die brennende Hölle, folgten der Witterung von Suchhunden oder harkten mit leichtem Gerät durch den Schutt. Auf den Tag genau drei Monate nach dem 11. September fanden sie Jonathan. "Eigentlich sind wir ganz gut davongekommen", meint Ielpi, der vermutlich durch die giftigen Dämpfe an einem nicht heilbaren Krebsleiden erkrankte. "Wir haben seinen Körper gefunden, seinen Helm und seine Jacke." Als seine Stimme zu versagen droht, zischt Lee "Stop it". Ein Trick, dem ihn sein Therapeut beigebracht hat, um die Fassung zu bewahren. "Das ist nicht wenig", fährt Ielpi fort. Jonathan gehörte zu den 174 Opfern, die "ganz" geborgen werden konnten. Von 1122 Menschen, die an Ground Zero ums Leben kamen, gibt es bis heute nicht ein Fitzelchen DNA. Glück ist relativ, hat Ielpi gelernt. Alles andere hat mit der richtigen Einstellung zu tun.

Während er die persönliche Erinnerung an den Horror am liebsten hinter sich lassen möchte, machte Lee es zu seiner Mission, gegen das öffentliche Vergessen zu arbeiten. Er baute gleich um die Ecke das "Tribute Center" auf. Einen Gedenkort, den seit 2006 mehr als 2,3 Millionen Besucher besucht haben. Als er nach der Tötung Osama bin Ladens im Mai dieses Jahres Zeit für ein paar private Worte mit Obama an Ground Zero fand, drängte er den Präsidenten, mehr für die Vermittlung des 11. September in den Schulen zu tun. Er erzählte ihm von den Kindern, die im "Tribute Center" auftauchen und nicht wissen, wer Bin Laden ist. Oder von dem Mädchen, das ihm weismachen wollte, "9/11" (die amerikanische Schreibweise für 11.9.) stehe für die Jahreszahl 1911.

Tatsächlich hat nicht ein Bundesstaat bis heute einen Lehrplan für die Geschehnisse vor zehn Jahren. "Die Regierung hat hier komplett versagt", klagt Ielpi.

Ob er Ground Zero jemals verlassen kann? Der 67-Jährige deutet an, es könne in nicht allzu ferner Zukunft der Zeitpunkt kommen, an dem er über einen Rückzug nachdenke. "Wir haben hier viel erreicht", gibt sich Ielpi optimistisch, den Stab irgendwann an andere übergeben zu können. Er hoffe, dann endlich mehr Zeit für seine drei noch lebenden Kinder und die Enkel zu haben. "So Gott will", fügt Ielpi hinzu - und fragt, ohne eine Antwort zu erwarten, warum er ständig diese Floskel gebraucht. "Ich wünschte, es gäbe eine Pille, mit der

ich meine Erinnerung löschen könnte."

Lee Ielpi, der am 11. September

in New York seinen Sohn verlor

Auf einen Blick

Tote in New York: 2606

Nationalitäten: 84

Deutsche Opfer: 11

Muslimische Opfer: 32

Jüngstes Opfer: 2 Jahre

Ältestes Opfer: 82 Jahre

Menschen, die in den Tod sprangen: 200

Gefundene Leichenteile an Ground Zero: 19 858 sp

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