Justitia soll mehr Tempo machen "Wir wollen zwar zügig arbeitende Richter, aber keinen kurzen Prozess"

Berlin/Saarbrücken. Es war einer der längsten Prozesse in der Geschichte der Bundesrepublik: 28 Jahre und elf Monate stritt der Saarbrücker Kaufmann Jürgen Gräßer vor sämtlichen Gerichtsinstanzen mit der saarländischen Landeshauptstadt um eine Baugenehmigung für einen Supermarkt und eine Entschädigung

Berlin/Saarbrücken. Es war einer der längsten Prozesse in der Geschichte der Bundesrepublik: 28 Jahre und elf Monate stritt der Saarbrücker Kaufmann Jürgen Gräßer vor sämtlichen Gerichtsinstanzen mit der saarländischen Landeshauptstadt um eine Baugenehmigung für einen Supermarkt und eine Entschädigung. Nach eigener Rechnung hatte er in über drei Jahrzehnten rund 22 Millionen Euro an Anwalts-, Prozess- und Gutachterkosten ausgegeben. Der Bundesgerichtshof wies 2003 Gräßers Klage auf millionenschweren Schadenersatz ab. Im Jahr 2006 verdonnerte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Bundesrepublik zur Zahlung von 45 000 Euro Entschädigung an Gräßer - weil die exzessive Prozessdauer gegen die Menschenrechte verstoße. Geht es nach Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), sollen solche Fälle in Zukunft nicht mehr vorkommen. Sie präsentierte nun einen Gesetzentwurf, der vorsieht, dass sich Bürger besser gegen zu lange Gerichtsverfahren und Ermittlungen wehren können.

Bislang können sie zwar zur Dienstaufsichtsbeschwerde greifen oder eine Verfassungsbeschwerde verfolgen. Der eine Weg bringt selten etwas, der andere dauert lange und ist kompliziert. Wenn Richter und Staatsanwälte zu langsam arbeiten, sollen die Bürger zunächst eine Verzögerung rügen können und dann - wenn sich nach Ablauf einer Frist immer noch nichts getan hat - eine Entschädigung vom Staat fordern.

Die soll laut Gesetzentwurf für jeden zerronnenen Monat hundert Euro betragen. Zuständig für die Entschädigungsklagen sollen die Oberlandesgerichte sein. Bis Ende 2009 gab es insgesamt 54 Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg gegen die Bundesrepublik wegen überlanger Verfahren - im laufenden Jahr sind es schon vier. Bei einem Urteil im Januar ging es um ein Sorgerechtsverfahren, das über fünf Jahre gedauert hat. Ein zweiter Fall zu Verwaltungsgerichtsverfahren über die Wertminderung von Grundbesitz in Wiesbaden hat mehr als 13 Jahre bis zu einer Justizentscheidung gebraucht.

Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention hat jeder einen Anspruch auf Rechtsschutz in einer angemessenen Zeit. "Gerichtlicher Rechtsschutz ist nur dann effektiv, wenn er nicht zu spät kommt", heißt es in dem Gesetzentwurf, der nun den Ländern und den Verbänden zur Stellungnahme vorliegt.

Mit dem Entwurf reagiert die Justizministerin vor allem auf das "Ohnmachtsgefühl", das viele Kläger empfinden, wenn Justitias Mühlen zu langsam mahlen. Im Durchschnitt stehen die deutschen Gerichte aber gar nicht so schlecht da, wie auch Leutheusser-Schnarrenberger sagt. So dauerten Bußgeldverfahren an deutschen Amtsgerichten im Jahr 2008 knapp drei Monate. Bei Familiensachen waren es acht Monate. An den Landgerichten dauerten Strafsachen in erster Instanz etwas mehr als sechs Monate, Zivilsachen mehr als acht Monate. Es handelt sich dabei aber eben nur um Durchschnittswerte.

Zu wenig Personal oder zu schlechte Ausstattung will die Justizministerin dabei künftig nicht mehr als Begründung gelten lassen.

Wie finden Sie die Idee der Bundesjustizministerin, Bürgern Schadenersatz für überlange Gerichtsverfahren zu zahlen?

Rixecker: Ich bin skeptisch, ob das der richtige Weg ist. Natürlich gibt es in Einzelfällen unerträgliche Verzögerungen, aber das sind wirklich Einzelfälle. In solchen Fällen muss man Abhilfe schaffen. Ob das mit einer Entschädigung geschehen kann und ob es sinnvoll ist, dass man Ressourcen, die der Justiz fehlen, dann verwendet, um ein neues Verfahren zur Überprüfung einer Verfahrensdauer zu eröffnen - das halte ich für bedenklich.

Aber dass manche Verfahren zu lange dauern, ist schon ein Problem, oder?

Rixecker: Wenn einfache Verfahren Jahre dauern, ist das inakzeptabel. Es gibt aber auch außerordentlich komplizierte Verfahren, die lange dauern müssen, weil man Sachverständigen-Gutachten braucht und komplizierte Beweise erhoben werden müssen. Nehmen Sie den Pascal-Prozess, der war extrem kompliziert. Und nun Richter, die mit solchen Verfahren nicht befasst sind, mit der Frage zu befassen, ob ein bestimmtes Verfahren zu lange dauert, ist ein merkwürdiger Vorschlag.

Wie ist die Situation bei der Prozessdauer im Saarland?

Rixecker: Wenn ich auf die saarländischen Zahlen schaue, muss ich sagen: Alles kann man verbessern, aber von einzelnen Ausnahmen abgesehen gibt es keine dramatisch langen Verfahren, auch im europäischen Vergleich übrigens nicht.

Ist die Befürchtung abwegig, dass bei Verfahren Schnelligkeit vor Genauigkeit geht, weil die Richter Verzögerungsrügen vermeiden wollen?

Rixecker: Das ist nicht ganz unbegründet. Wir wollen zwar den zügig arbeitenden Richter, aber nicht den Richter, der kurzen Prozess macht. Denn dann können auch Rechte und Chancen der Bürger verloren gehen. Das muss man vermeiden.

Meinung

Rechtsstaatlich fragwürdig

Von SZ-Redakteur

Daniel Kirch

Der Vorschlag von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, kürzere Prozesse mit Entschädigungen erzwingen zu wollen, hat seine Tücken. Zu Recht will die FDP-Politikerin Gerichtsverfahren vermeiden, die sich ohne Not über Jahre und Jahrzehnte hinziehen. Das Gesetz, erst einmal in Kraft getreten, wird aber auch dazu führen, dass Beteiligte in Allerweltsprozessen vor den Amtsgerichten, denen es mit Verhandlung und Beweisaufnahme einfach nicht schnell genug geht, beim Gericht Druck machen und mit einer "Verzögerungsrüge" drohen. Ob das im Sinne des Rechtsstaats ist, darf bezweifelt werden. Leutheusser-Schnarrenberger wäre daher gut beraten, einen Missbrauch der neuen Möglichkeit in ihrem Gesetzentwurf auszuschließen.

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