Jubel und Tränen in bitterkalter Wüstennacht

Noch bevor Mario Sepúlveda zu sehen war, war er schon zu hören. Auf den letzten Metern seiner Fahrt in die Freiheit stieß der Bergmann Freudenschreie aus. Und als die Rettungskapsel "Phönix 2" dann kurz nach 1 Uhr morgens an die Oberfläche kam, legte sich auf das Gesicht des 41-Jährigen ein Lachen, das nicht mehr weichen wollte

Noch bevor Mario Sepúlveda zu sehen war, war er schon zu hören. Auf den letzten Metern seiner Fahrt in die Freiheit stieß der Bergmann Freudenschreie aus. Und als die Rettungskapsel "Phönix 2" dann kurz nach 1 Uhr morgens an die Oberfläche kam, legte sich auf das Gesicht des 41-Jährigen ein Lachen, das nicht mehr weichen wollte. Mario Sepúlveda ist vielleicht das Gesicht dieser außerordentlichen Geschichte einer Rettung, die irgendwo zwischen einer gigantischen Reality-Show und einer technischen Meisterleistung liegt. Bis gestern am späten Abend waren 21 der 32 chilenischen sowie der bolivianische Kumpel gerettet. Und die Bergung verlief reibungslos. Um 0.11 Uhr atmete Florencio Ávalos als erster nach 70 Tagen wieder die frische, kalte Wüstenluft. Eine knappe Stunde danach kam Sepúlveda als Zweiter an die Oberfläche, umarmte seine Frau einmal, drückte dann den Präsidenten Sebastián Piñera gleich drei Mal ans Herz, verteilte Gesteinsbrocken und sprang wie ein Rockstar umher.

Wer Sepúlveda gesehen hat, der musste sich fragen, wofür eigentlich die massiven medizinischen Vorkehrungen notwendig waren. Die ersten Minenarbeiter zeigen sich in erstaunlich guter Verfassung. Wirkte Florencio Ávalos, der erste Gerettete, noch ein wenig benommen bei seiner Ankunft an der Erdoberfläche, strotzte Sepúlveda vor Freude und Kraft. Anschließend aber wird auch er auf eine Trage gelegt und in ein Behelfslazarett gebracht. Dort werden die Begleute an einen Vitamin-Tropf gehängt, werden kurz untersucht und können dann in weißen Containern mit abgedunkelten Fenstern einige Zeit mit ihren Angehörigen zusammen sein. Anschließend werden sie mit Hubschraubern in ein Krankenhaus in Copiapó geflogen. Dort endet dann 48 Stunden später endgültig die Odyssee, wenn die Geretteten auf Herz und Nieren geprüft worden sind.

Die überdrehten Bilder von Sepúlveda sollten eine Botschaft senden in die Welt: "Wir haben überlebt, und wie . . ." Und nebenbei passte der Auftritt des 41-Jährigen hervorragend in das Bild, das Staatschef Piñera vermitteln will von seinem Land mi dieser erfolgreichen Rettungsaktion: "Chile hat sich bewiesen. Die Rettung macht uns stolz." Tatsächlich verlief die Bergung der Verschütteten beeindruckend reibungslos.

Die Augen der ganzen Welt verfolgen in dieser bitterkalten Wüstennacht die vielleicht am besten organisierte Rettungsaktion in der Geschichte. Erstmals seit Tagen war der Himmel über der Atacama-Wüste sternenklar. Seit Anfang August waren sie unter tausenden Tonnen von Gestein lebendig begraben, nachdem bei einem Teileinsturz der Kupfer- und Goldmine San José die Eingänge verschüttet worden waren.

Mit der Rettung aller Bergleute beginnt Phase II der unglaublichen Geschichte. Bis jetzt haben die 33 als Maschinenführer, Elektriker und Bohrspezialisten rund 700 Euro im Monat verdient. Mittlerweile bieten Fernsehanstalten bis zu 4500 Euro für ein Exklusiv-Interview. Eine deutsche TV-Talkshow hat laut einem chilenischen Zeitungsbericht eine unbegrenzte Summe geboten, um die Männer am besten gleich aus der Rettungskapsel in ein Flugzeug nach Deutschland zu setzen. Die Mineros, die unter Tage alle Nachrichten verfolgt haben, wissen längst, dass sie den Moment nutzen müssen, dass ihre Berühmtheit ein Verfallsdatum hat wie Milch. Alejandro Pino, ein Journalist, der die Kumpel in den vergangenen Tagen im Umgang mit Medien beraten hat, hörte eine Frage ganz besonders oft: "Wie gehen wir mit den vielen Anfragen um, bei denen uns hohe Summen geboten werden?"

Einen Vorgeschmack auf das, was die Familien in den kommenden Wochen und Monaten erwartet, bekam noch Stunden vor der Rettung die Familie von Florencio Ávalos zu spüren. Als klar war, dass der 31-Jährige als erster aus der Mine kommen würde, belagerten rund 50 Fotoreporter und Kameraleute den Platz, wo seine Frau und ein anderer Verwandter am Fernseher den Fortgang der Bergungs-Vorbereitungen beobachteten. Die Reporter stellten sich auf Stühle und Leitern und lauerten aus dieser Position auf jede Gefühlsregung, einen Zweifel, eine Träne, das Zucken eines Mundwinkels. Auch deshalb hat die chilenische Regierung allen Mineros und ihren Familien zugesagt, dass die Polizei ihre Wohnungen und Festveranstaltungen sichern wird, um Journalisten und Neugierige fernzuhalten. "Wie gehen wir mit den vielen Anfragen um, bei denen uns hohe Summen geboten werden?"

Frage der Bergleute an einen Medienberater

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