Jeden Tag das erste Glas stehen lassen

Saarbrücken. "Ich belüge mich selbst, ich belüge meinen Mann. Meine Familie zerbricht - und ich weiß, ich verliere meine Kinder, wenn ich nicht aufhöre zu trinken. Aber ich schaffe es nicht allein." Die Frau, die das sagt, ist Anfang dreißig, erschöpft, abgekämpft. Ihre Haut ist gebräunt, trotzdem wirkt sie blass

Saarbrücken. "Ich belüge mich selbst, ich belüge meinen Mann. Meine Familie zerbricht - und ich weiß, ich verliere meine Kinder, wenn ich nicht aufhöre zu trinken. Aber ich schaffe es nicht allein." Die Frau, die das sagt, ist Anfang dreißig, erschöpft, abgekämpft. Ihre Haut ist gebräunt, trotzdem wirkt sie blass. "Ich habe schon oft versucht aufzuhören, aber ich renne jedes Mal gegen eine Wand." Sie stockt kurz, dann sagt sie klar und deutlich: "Mein Name ist Jessica, ich bin Alkoholikerin."

Jessica (alle Namen geändert) hat mit ihrer Sucht Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern (AA) in Saarbrücken gesucht. Gegründet wurde diese Gemeinschaft im Jahr 1935 in den USA. Nun feiert sie ihr 75-jähriges Bestehen. Alles begann in Akron im Bundesstaat Ohio. Dort begegneten sich der Börsenmakler William Griffith Wilson und der Arzt Robert Holbrook Smith. Beide schwere Trinker. Beide kamen allein nicht vom Alkohol los. Gemeinsam schafften sie es - weil sie endlich offen sprechen, Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen konnten. Um auch anderen Betroffenen zu helfen, hielten sie ihre "Zwölf Schritte" auf dem Weg zu einem Leben ohne Alkohol schriftlich fest. Noch heute sind diese das Fundament für die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker.

Im Saarland gibt es AA seit 1966. An diesem Abend in Saarbrücken sind elf "Freunde", wie sich die Anonymen Alkoholiker untereinander nennen, zum Treffen gekommen - vom Bergmann und Handwerker bis zum Designer und zur Führungskraft. Ebenso wenig wie der Alkohol kennt die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker gesellschaftliche Schranken. Was sie eint, ist ihr Problem mit dem Alkohol.

Der lange Tisch ist gedeckt wie für ein Kaffeekränzchen. Es wird jede Menge Kaffee getrunken. Zu Beginn tragen die Anwesenden reihum die "Zwölf Schritte" vor. Manche auswendig, manche vom Blatt. Der erste Schritt: "Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten." Der vierte Schritt: "Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren." Der achte Schritt: "Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen." Der zwölfte Schritt: "Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten."

Pro Woche finden im ganzen Saarland insgesamt 30 Treffen statt, rund 500 Menschen nutzen die Angebote, weltweit sind es etwa zwei Millionen. Offizielle Zahlen gibt es jedoch nicht, denn die Anonymen Alkoholiker sind kein Verein. Es gibt keine Mitgliedschaft. Die einzige Voraussetzung, die man mitbringen muss: den Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Das klingt leicht, ist aber für Alkoholiker meist nur über einen langen Weg voller Illusionen, Selbsttäuschungen und Lügen zu erreichen.

"Ich habe einmal mit einem Freund gewettet, dass ich es schaffen würde, ein Jahr lang trocken zu bleiben. Um 2800 D-Mark. Ich wollte mir ein neues Motorrad kaufen", erzählt Robert. "Ich habe es geschafft - aber in der ganzen Zeit habe ich mir jeden Tag ausgemalt, wie es danach sein würde. Wenn ich wieder trinken darf." Robert ist Ende 40. Mit dem Trinken hat er schon als Jugendlicher angefangen. Trocken ist er seit drei Jahren. "Ich habe viele Jahre gegen die Einsicht angekämpft, dass ich aufhören muss. Ich wollte unbedingt einen Weg finden, mit dem Alkohol leben zu können. 20 Jahre habe ich versucht, weniger zu trinken, nur um nicht ganz aufhören zu müssen. Dann habe ich den Kampf aufgegeben."

Aufgeben - das ist bei den Anonymen Alkoholikern der erste Schritt zum Sieg. Bei dem Treffen in Saarbrücken spiegeln viele der anonymen Schilderungen wider, dass die Abhängigen einen inneren Kampf aufgeben mussten.

Den Kampf, in ihrem Leben einen rechtmäßigen Platz für den Alkohol zu finden. "Ich habe mir immer gesagt: Du trinkst schon mehr als die anderen, aber du bist ja auch groß und kräftig."

Den Kampf, die Sucht im Geheimen auszuleben. "Jeder Tag wird zum Spießrutenlauf. Du überlegst die ganze Zeit, wann du das nächste Mal etwas trinken kannst, ohne dass es jemand mitbekommt. Trinken ist ein Vollzeit-Job."

Den Kampf gegen die Erkenntnis, dass ein Leben mit dem Alkohol kein erfülltes ist. "Nach außen sah alles toll aus. Ich hatte eine leitende Position im Job, eine Wohnung, einen Sportwagen, eine Freundin. Aber in mir drin hatte ich nichts mehr zu melden."

Den Kampf gegen das Wissen, dass man Hilfe von Menschen braucht, die wissen, was man durchmacht. "Wie ein Süchtiger tickt, kann nur ein Süchtiger verstehen. Nicht die Ehefrau oder Lebensgefährtin, kein Freund oder Therapeut." "Hier kann ich alles offen sagen, niemand verurteilt mich. Draußen kann ich das nicht."

Die Anonymen Alkoholiker leben nach der Devise: "Ich lasse jeden Tag das erste Glas stehen." Es geht um das Hier und Jetzt. Darum, sich nicht von den Lasten der Vergangenheit erdrücken oder dem Blick in die Zukunft abschrecken zu lassen. "Wenn für einen Alkoholiker irgendwann das Erwachen kommt und er seine Lebenssituation erfasst, dann wiegt die Schuld der Vergangenheit so schwer, dass es viele zum Scheitern bringt", sagt Robert. "Genauso ist die Zukunft zu mächtig, zu ungewiss, als dass man sich ihr als Ganzes stellen könnte. Aber im Heute kann ich jeden Tag neu anfangen."

Christoph fängt sein Leben seit sechs Jahren jeden Tag neu an. "Ich habe zu trinken angefangen, weil ich meine Schüchternheit überwinden wollte, vor allem gegenüber Mädchen. Später konnte ich im Studium keinen Vortrag mehr halten, ohne drei bis vier Halbe Bier zu trinken. Im Job gab es in der Mittagspause kein Essen, sondern Alkohol. Aber das war kein Leben. Ich hatte am Tag vielleicht zwei bis drei gute Stunden. Die Anonymen Alkoholiker haben für mich ein Tor aufgestoßen. Es liegt so viel Gutes vor mir, das ich mir noch gar nicht vorstellen kann, und ich darf es so erleben und fühlen, wie es ist - ohne vom Alkohol benebelt zu sein", sagt er, und seine großen Augen leuchten, als er seine Lebensgefährtin ansieht, die bei diesem Treffen als Gast dabei ist. Unter ihrem Oberteil rundet sich deutlich ihr Bauch. "In zwei Monaten werde ich Vater. Um ehrlich zu sein, habe ich die Hosen gestrichen voll, aber ich freue mich einfach riesig." Stefanie Marsch

Kontaktstelle der Anonymen Alkoholiker im Saarland: Am Torhaus 25 in Saarbrücken, Tel. (06 81) 1 92 95.

Im Internet: www.aa-sw.de

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