Israel empört sich

Tel Aviv. Was vor knapp zwei Monaten mit ein paar Zelten in der Innenstadt von Tel Aviv als Protest gegen hohe Mieten begann, ist inzwischen ein Schrei nach grundlegenden Veränderungen geworden. Zuversichtlich, bunt, laut und fröhlich zogen rund 450 000 Demonstranten landesweit zum Protest gegen soziale Ungerechtigkeit, unterstützt von Popstars, Schauspielern und Satirikern

 Seit Wochen fordern Israelis Reformen, diese junge Frau will sogar eine Revolution. Foto: Weien/dpa

Seit Wochen fordern Israelis Reformen, diese junge Frau will sogar eine Revolution. Foto: Weien/dpa

Tel Aviv. Was vor knapp zwei Monaten mit ein paar Zelten in der Innenstadt von Tel Aviv als Protest gegen hohe Mieten begann, ist inzwischen ein Schrei nach grundlegenden Veränderungen geworden. Zuversichtlich, bunt, laut und fröhlich zogen rund 450 000 Demonstranten landesweit zum Protest gegen soziale Ungerechtigkeit, unterstützt von Popstars, Schauspielern und Satirikern. Die Hauptstraßen im Stadtzentrum von Tel Aviv waren am Samstagabend voller nicht enden wollender Menschenschlangen. Viele Demonstranten hatten Megafone dabei, andere versuchten, sich mit Trommeln und Blasinstrumenten Gehör zu verschaffen oder in exotischen Verkleidungen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Selbst die drückend-feuchte Hitze hielt sie nicht davon ab, bis spät in die Nacht ihr Mantra gegen die hohen Lebenshaltungskosten zu rufen: "Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit." Es war die größte Demonstration seit Staatsgründung.Die gut fünf Wochen alte Sozialbewegung lässt Raum für viele Bedürfnisse. Mit roten T-Shirts bekleidet marschierten die Anhänger der "Partei der Arbeiter", nicht zu verwechseln mit der traditionellen israelischen Arbeitspartei, die nicht erkennbar vertreten war. Sprechchöre forderten zum Sturz der Regierung auf, was jedoch nur ein Teil der Demonstrationen befürwortet. Nur ganz vereinzelt schlugen Teilnehmer des Protestmarsches den politischen Bogen zwischen sozialer Ungerechtigkeit und der Besatzung des Westjordanlandes.

Mit 450 000 Demonstranten, davon zwei Drittel allein in Tel Aviv, erreichten die Veranstalter zwar nicht das gesteckte Ziel von einer Million, trotzdem machten sie Geschichte. "Man hat uns gesagt, dass sich die Bewegung abschwächt", rief der Vorsitzende der Studentengewerkschaft, Itzik Schmuli, den Teilnehmern zu. "Heute Abend beweisen wir das Gegenteil." Schmuli kündigte eine Fortsetzung der Proteste an: "Wir, die neuen Israelis, sind entschlossen, den Kampf für eine gerechtere und bessere Gesellschaft fortzusetzen, wohl wissend, dass er lang und schwierig sein wird."

Noch weiß keiner genau, welche Richtung Israels junge Sozialbewegung von hier aus einschlagen wird. Umfragen zeigen, dass sie von fast 90 Prozent der Bevölkerung befürwortet wird, was mit daran liegt, dass sie eine klare Positionierung vermeidet. "Was sie immer wieder unter Beweis gestellt hat, ist, dass sie für Überraschungen gut ist", kommentierte Professor Dani Gutwein, Historiker an der Universität von Haifa. Die Bewegung werde neue Formen annehmen, aber nicht verschwinden. Eine veränderte Aktionsform könnten gezielte Boykotte gegen einzelne Unternehmen sein.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte sich bereit, "konkrete Veränderungen" in die Wege zu leiten. Binnen zwei Wochen soll ein Kommittee Lösungen auf den Tisch legen. Netanjahu versprach gestern, "rasch und den Vorschlägen entsprechend zu handeln". Ziel sei es, "die Balance zwischen sozialen Bedürfnissen und verantwortungsvoller Wirtschaft zu wahren".

An der hohen Steuerlast, die Israels Bürger vor allem aufgrund der hohen Verteidigungskosten tragen müssen, wird sich wohl nichts ändern, wohl aber an der Verteilung der Last. Fast die Hälfte seiner Einnahmen bezieht der staatliche Haushalt aus indirekten Steuern, die die Verbraucher ungeachtet ihres eigenen Einkommens bezahlen. Im Gespräch ist derzeit eine Reduzierung der indirekten Steuern, ebenso wie höhere Abgaben auf Börsengewinne.

Meinung

Es gibt kein Zurück mehr

Von SZ-MitarbeiterinSusanne Knaul

Auch wenn die Zelte der Protestcamper in Israel in dieser Woche wieder abgebaut werden, gibt es für die Politiker kaum noch ein Zurück zur alten Tagesordnung. Spätestens bis zu den nächsten Wahlen müssen die Parteien ihren Wählern neben Antworten auf sicherheitspolitische Fragen auch ein wirtschafts- und sozialpolitisches Programm präsentieren.

Die Regierung Netanjahu ist unter Druck und bereit zu Reformen. Der Initiatorin der Zeltbewegung, Daphni Leef, geht es aber um eine Abkehr von der freien Marktwirtschaft zurück zur Verstaatlichung - ein Ziel, das die großen Parteien inklusive Arbeitspartei längst nicht mehr verfolgen. Eine eigene Liste hätte kaum Überlebenschancen, solange sie eine Ein-Themen-Partei bleibt. Pragmatischer wäre es, mit der Regierungskommission zu kooperieren, die mit der Lösung der sozialen Probleme beauftragt ist.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort