"Irgendjemand hat versucht, uns zu töten"

Immer wenn nachts ein Martinshorn ertönt, fliehen Recep Ünsal und seine Familie vor ihr Haus in Völklingen. Sie haben Angst, dass es wieder brennt. Wie damals am frühen Morgen des 5. August 2007, als Ünsal, seine schwangere Frau und die Kinder über eine Drehleiter gerettet wurden - "in letzter Minute", wie ein Feuerwehrmann sagte

 5. August 2007: Das Haus der Familie Ünsal in Völklingen steht in Flammen. Parallel brennen zwei weitere Häuser in der Stadt, die von Migranten bewohnt werden. Täter wurden nie gefasst. Foto: Rolf Ruppenthal

5. August 2007: Das Haus der Familie Ünsal in Völklingen steht in Flammen. Parallel brennen zwei weitere Häuser in der Stadt, die von Migranten bewohnt werden. Täter wurden nie gefasst. Foto: Rolf Ruppenthal

Immer wenn nachts ein Martinshorn ertönt, fliehen Recep Ünsal und seine Familie vor ihr Haus in Völklingen. Sie haben Angst, dass es wieder brennt. Wie damals am frühen Morgen des 5. August 2007, als Ünsal, seine schwangere Frau und die Kinder über eine Drehleiter gerettet wurden - "in letzter Minute", wie ein Feuerwehrmann sagte. Das Haus brannte ab, die türkische Familie verlor ihr Hab und Gut. Die Täter, die nie gefasst wurden, hatten laut Polizei einen Kinderwagen im Flur angezündet. Nur drei Jahre später, im September 2010, brach abermals Feuer aus. Ünsal rannte durch den verqualmten Flur, um seine Kinder aus dem ersten Stock zu retten und die anderen Mieter zu alarmieren.In beiden Fällen war es Brandstiftung, das hat die Polizei zweifelsfrei festgestellt. "Irgendjemand hat zweimal versucht, uns zu töten", sagt der 38-jährige Ünsal mit zitternder Stimme. "Aber warum nur?" Ein "ganz normales glückliches" Leben habe er mit seiner Familie bis zu jener Nacht im August geführt, sich immer wohl gefühlt in Völklingen, wo er geboren wurde. Heute hat er Angst vor seinen Mitmenschen.

Die Ünsals sind nicht die einzigen Völklinger mit Migrationshintergrund, die Opfer von Brandstiftungen wurden. Mindestens elf Mal hat es seit September 2006 in Häusern gebrannt, in denen Italiener, Schwarzafrikaner, Algerier, vor allem aber Türken leben. Dabei gab es mindestens 20 Verletzte, darunter Kinder. Die Brände wurden oft ähnlich entfacht, indem leicht entzündbares Material im Eingangsbereich abgefackelt wurde. An einem Abend brannte es parallel in zwei Häusern, im spektakulärsten Fall, am 5. August 2007, gleichzeitig in drei Häusern. Alle Brände fanden in Völklingen statt, wo die NPD im Stadtrat sitzt und rechtsradikale Kameradschaften aktiv sein sollen.

Für die Polizei gibt es jedoch "keine Hinweise", dass es sich um Brandstiftungen mit fremdenfeindlichem Hintergrund gehandelt haben könnte. Es sei in alle Richtungen ermittelt worden, selbstverständlich sei man "neutral an die Sache rangegangen", sagte Polizeisprecher Georg Himbert der SZ. Waren die Brände also eher Milieuverbrechen oder lebensgefährliche Jungenstreiche? Möglich. Fakt ist: In allen Fällen (bis auf den jüngsten, der noch untersucht wird) wurden die Ermittlungen eingestellt. Bemerkenswert auch: 2007 gab es in Völklingen insgesamt zehn Brandstiftungen - alle, bis auf die vom 5. August, sind aufgeklärt.

Engagierte Bürger und Experten aus Migrationseinrichtungen in Völklingen, die mehrfach bedroht wurden und daher nicht namentlich genannt werden wollen, üben Kritik an der Polizei. Sie sprechen von halbherzigen Ermittlungen, einige sogar von Vertuschung. So sollen in einigen Fällen Zeugen nur nach Drängen, zum Teil überhaupt nicht angehört worden sein. Auch Ünsals Rechtsanwalt, Thomas Lomberg, ist unzufrieden mit den Ermittlungen. "Dass man bei Brandstiftungen in drei von Migranten bewohnten Häusern so schnell fremdenfeindliche Hintergründe beiseite schiebt, ist schon sehr verwunderlich", so Lomberg. Er könne zudem in den Ermittlungsakten keine Hinweise darauf erkennen, dass man trotz Gründung einer Sonderkommission ernsthaft in diese Richtung ermittelt habe. Stattdessen stand sehr rasch Ünsal selbst im Visier der Ermittler. Ein Informant, der laut Akten als "sehr vertrauenswürdig" eingestuft wurde, soll berichtet haben, Ünsal selbst habe die Brände für 5000 Euro in Auftrag gegeben. Monatelang hörte die Polizei daraufhin Ünsals Telefon ab und ließ Kontobewegungen überwachen - ohne jedes Ergebnis.

Ünsal selbst sagt, das Misstrauen der Beamten habe er von Anfang an verspürt. Auf die Bitte etwa, Wertsachen aus der Ruine seines Hauses holen zu dürfen, sei ihm vom ersten Beamten vor Ort geantwortet worden: "Das ist doch eh Schwarzgeld, oder?".

Den Mut, so offen zu sprechen, hat außer Recep Ünsal keiner der Betroffenen. Zu groß ist die Angst, die Gewalt zu schüren. Zumal Übergriffe und Drohungen gegen Migranten in Völklingen keine Seltenheit seien, sagen Betroffene. Nazi-Parolen und Hakenkreuze an Hauswänden und öffentlichen Gebäuden ebenso zum Stadtbild gehörten wie ein von Kameradschaftsmitgliedern betriebenes Tattoo-Studio. Nachdem das heikle Thema 2008 in einem Fernsehbeitrag zur Sprache kam, erhielten türkische Bewohner und gegen Rechtsextremismus engagierte Bürger anonyme Drohbriefe: "Früher oder später bekommen wir Euch alle."

Trotz Hinweisen aus der Bevölkerung braucht die Stadtverwaltung bisweilen Monate, um Nazi-Symbole aus dem Stadtbild zu entfernen. Bei einem übergroßen Hakenkreuz, das Monate an einer Grundschule prangte, bedurfte es gar einer massiven Intervention eines erbosten Bürgers. Auffällig platzierte Symbole an einem Supermarkt im Jahr 2008 tat der damalige Polizeichef Völklingens, Axel Busch, als "provozierende Graffiti" ab. Busch ist übrigens auf Familienfotos zu sehen, die seine Tochter in einem sozialen Netzwerk präsentiert. Direkt daneben posiert seine zweite Tochter neben einem Mann mit Glatze, im T-Shirt der verbotenen Neonazi-Band "Landser".

Im Völklinger Rathaus hat man bis heute keine Belohnung für die Ergreifung der Täter der Hausbrände ausgesetzt. Nicht einmal der Sicherheitsbeirat wollte sich bislang mit dem Thema befassen.

SZ-Informationen zufolge soll der Moschee-Verein der Türkisch-Islamischen Gemeinde in Völklingen kürzlich wieder einen anonymen Drohbrief erhalten haben. Die Polizei habe gebeten, ihn nicht öffentlich zu machen.

Recep Ünsal, dessen Vater als Gastarbeiter noch am Völklinger Bahnhof von einer Blaskapelle empfangen wurde, weiß nicht, wie es weitergehen soll. Kürzlich gab es wieder einen Vorfall: Jemand fummelte von außen an seiner Haustür herum. Ünsal öffnete und sah sich zwei Männern gegenüber, einer von ihnen "ein Glatzkopf", wie er sagt. Die Täter flohen. Eine Fahndung habe die Polizei nicht veranlassen wollen. Das könne man nur, wenn was passiert sei, habe man ihm gesagt. "Dass man

so schnell fremdenfeindliche Hintergründe beiseite schiebt, ist sehr verwunderlich."

Rechtsanwalt

Thomas Lomberg

Hintergrund

Völklingen gehört zum Regionalverband Saarbrücken und zählt rund 40 000 Einwohner. Die Industrialisierung begann schon 1572, als in Geislautern die erste Eisenschmelze der Region entstand. 1873 begründeten die Gebrüder Röchling mit der Übernahme der Hütte eine Ära des Aufschwungs. Die 1986 geschlossene "Alte Völklinger Hütte" gilt heute als größter Schatz der Stadt und ist Weltkulturerbe der Unesco. Völklingen leidet seit der Montankrise unter relativ hoher Arbeitslosigkeit. Die Stadt hat mit fast 20 Prozent einen hohen Anteil ausländischer Mitbürger. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Euro-SorgenDie Krise läuft aus dem Ruder. Italien zahlt Rekordzinsen für seine Anleihen, Frankreich droht der Verlust seiner Top-Bonität und der Rettungsschirm hat keinen funktionierenden Hebel. Die USA versprechen Hilfe, sind aber selbst nicht besser dra
Euro-SorgenDie Krise läuft aus dem Ruder. Italien zahlt Rekordzinsen für seine Anleihen, Frankreich droht der Verlust seiner Top-Bonität und der Rettungsschirm hat keinen funktionierenden Hebel. Die USA versprechen Hilfe, sind aber selbst nicht besser dra