In Stuttgart blüht der zivile Ungehorsam

Stuttgart. Die jüngste Zahl lautet 865 Millionen Euro. Um so viel soll nach aktueller Berechnung die ICE-Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm teurer werden, also fast drei statt den bisher kalkulierten zwei Milliarden Euro kosten

 Sitzstreik im Stuttgarter Bahnhof: Zahlreiche Bürger protestierten am Wochenende gegen den bevorstehenden Abriss des Nordflügels. Am Freitag waren dort Bauzäune aufgebaut worden, erste Bagger rückten an. Fotos: dpa

Sitzstreik im Stuttgarter Bahnhof: Zahlreiche Bürger protestierten am Wochenende gegen den bevorstehenden Abriss des Nordflügels. Am Freitag waren dort Bauzäune aufgebaut worden, erste Bagger rückten an. Fotos: dpa

Stuttgart. Die jüngste Zahl lautet 865 Millionen Euro. Um so viel soll nach aktueller Berechnung die ICE-Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm teurer werden, also fast drei statt den bisher kalkulierten zwei Milliarden Euro kosten. Der Schienenweg auf der "West-Ost-Magistrale" von Paris nach Bratislava (Slowakei) ist Teil des Großvorhabens "Stuttgart 21", das es wegen der massiven Bürgerproteste inzwischen wöchentlich in die überregionalen Nachrichten schafft. Während Frankfurt und München der Idee der Bahn, ihre Kopfbahnhöfe zu Durchgangsbahnhöfen zu machen, schon vor vielen Jahren eine Abfuhr erteilten, fand sie in Stuttgart Gehör. Im Landtag hält eine ungewöhnliche Allianz aus den Regierungsparteien CDU und FDP sowie der oppositionellen SPD dem Projekt die Stange.

"S 21", so die Kurzformel des Projekts, ist nicht nur eine neue ICE-Schienentrasse, die kaum jemand als notwendig in Frage stellt. "S 21" meint auch den Umbau in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof, es meint den Abriss alter wuchtiger Bahnhofsflügel, es meint das Fällen einiger hundert Bäume im "Schlossgarten", der grünen Lunge der Stadt. Seit Monaten schwellen die Proteste an. "In Stuttgart ist nichts unumkehrbar außer der Kehrwoche", lautet ein Spruch. Für das Milliardenprojekt der Bahn scheint dies nicht zu gelten. Da scheint der Zug, um im Bild zu bleiben, bereits abgefahren.

Bis zu 15 Jahre Baustelle

Und dies, obwohl der Protest unter Bürgern der Landeshauptstadt eine unüberhörbare Lautstärke erreicht hat. Der Schauspieler Walter Sittler und bekannte Köpfe der Stadt sind die Galionsfiguren der "Montagsdemonstrationen", der "60 Kreischsekunden", der Sitzstreiks und der Aufrufe der "Parkschützer", sich gegebenenfalls, wenn die Kettensägen anrücken, an Bäume zu binden. So viel ziviler Ungehorsam war nie in dieser Stadt. Die Grünen in Stadt und Land, seit jeher Kritiker des Projekts, liegen neuerdings in Umfragen bei 20 Prozent. Das macht die Regierenden nochmals wütender. Und am 27. März 2011 ist Landtagswahl. Das verspricht stürmische Zeiten.

Der Protest wird, soviel ist sicher, nicht abschwellen bis dahin. "Stuttgart 21" liegt mitten in einem bewohnten Areal der Stadt. Die ein Kilometer lange Baugrube wird jeder sehen, jeder spüren, jeder hören, der hier lebt und diese Stadt im kommenden Jahrzehnt besucht. Hier wird keine Brache mit Leben gefüllt, sondern erst einmal für zwölf oder 15 Jahre Leben beeinträchtigt. Aber die Wahrheit ist auch: Stuttgart hat die große Chance, die 16-spurigen Gleisanlagen, die derzeit die Stadt auf ihrer Nord-Ost-Achse (Gäubahnstrasse) hässlich einschneiden, mit Wohnungen zu überbauen. Dabei geht es um viel Geld. Die Stadt hat der Bahn lange im Vorgriff auf "S 21" das 130 Hektar große Gelände abgekauft und hofft natürlich nun, nicht darauf sitzen zu bleiben.

Aus Sicht der Kritiker ist "Stuttgart 21" ein gigantisches Prestigeprojekt der Politik. Wirkliches Aufbegehren aber gibt es erst in den letzen Jahren. Und es hat sich eine seltsame Mesalliance gebildet, weshalb es den Projektbetreibern schwer fällt, alle als "Chaoten" abzustempeln: Es ist der Protest der Bürger, die ihre Häuser, ihre Wohnungen abbezahlt haben. Viele fürchten um ihre wohlverdiente Ruhe im Alter. Jüngere sehen wütend, dass gleichzeitig der öffentlichen Hand Geld für Kinder und Bildung ausgeht. Einige gute Infrastrukturprojekte wurden schon gestrichen.

Die Kritiker bauten lange darauf, "die Politik" werde schon aufwachen, wenn die tatsächlichen Zahlen bekannt würden und sie bekennen müssten, dass Geld andernorts fehle. Doch nichts dergleichen geschah. Die Projektträger wiederholten ihr Mantra Jahr für Jahr: Stuttgart und damit Baden-Württemberg dürfe nicht abgehängt werden von den europäischen Hochgeschwindigkeitsstrecken. Hier das hehre Große, dort das kleinliche Klagen. Allein das Marketing verschlingt jährlich mehrere Millionen Euro - alles nur, um eine Akzeptanz des Projektes herzustellen.

Noch Ende 2009, nach mehr als 20 Jahren der Planungen, Planfeststellungsverfahren, Prozessen und Klagen stellte Bahn-Chef Rüdiger Grube fest, für ihn liege die "Sollbruchstelle" für den Bahnhofsbau bei 4,5 Milliarden Euro. Mehr dürfe es nicht kosten. Selbst Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hielt Mehrkosten für "nicht vermittelbar". Es waren taktische Äußerungen, um nicht als derjenige zu erscheinen, der ein Fass ohne Boden gut heißt.

Zu spät zum Aussteigen

In Wahrheit wurde kein Zentimeter am Plan gerüttelt. Das Gutachter-Büro Vieregg & Rößler sagt bis zu 8,7 Milliarden Euro und eine Entwicklung wie bei der U-Bahn München voraus. Dort wird seit 40 Jahren gebaut, Tunnelkilometer um Tunnelkilometer. Bei steigenden Baupreisen. Auch für "Stuttgart 21" und seine 33 Tunnelkilometer gilt: Zum Aussteigen ist es längst zu spät. Hany Azer ist Chef des Gesamtprojekts. Unter der Regie des Ingenieurs aus Ägypten entstand bereits der Berliner Hauptbahnhof. Auch dort überwölkte Großmannslyrik ("Kathedrale des Verkehrs") so manche Baupannen und Fehlakzeptanzen. Der dortige Architekt zog vor Gericht, weil aus Kostengründen seine gewölbte Deckenkonstruktion weggelassen wurde. Auch in Berlin verhallte die Kritik an der überdimensionierten Ästhetik der Nachwendezeit nicht. Den Satz, mit dem Azer auf solche Anwürfe reagierte, kann er nun in Stuttgart recyceln: "Ich habe nur gebaut, was die Berliner und die Politiker bestellt haben." Der Unterschied: Eine Abstimmung der Stuttgarter fand nie statt.

Hintergrund

 Drei Polizisten müssen einen Demonstranten wegtragen, der eine Straßenkreuzung blockierte.

Drei Polizisten müssen einen Demonstranten wegtragen, der eine Straßenkreuzung blockierte.

 Eine Simulation zeigt, wie der Stuttgarter Bahnhof einmal aussehen soll. Das Tageslicht fiele durch riesige Bullaugen herein.

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 Sitzstreik im Stuttgarter Bahnhof: Zahlreiche Bürger protestierten am Wochenende gegen den bevorstehenden Abriss des Nordflügels. Am Freitag waren dort Bauzäune aufgebaut worden, erste Bagger rückten an. Fotos: dpa

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 Eine Simulation zeigt, wie der Stuttgarter Bahnhof einmal aussehen soll. Das Tageslicht fiele durch riesige Bullaugen herein.

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 Drei Polizisten müssen einen Demonstranten wegtragen, der eine Straßenkreuzung blockierte.

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Die Idee der unterirdischen Gleise stammt aus dem Jahr 1988 vom Stuttgarter "Professor für Eisenbahnwesen", Gerhard Heimerl. Es wurde ein Projekt der Baden-Württemberg-Connection: 1994 präsentierten Ministerpräsident Erwin Teufel, Stuttgarts damaliger Oberbürgermeister Manfred Rommel und Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann (Ludwigsburger) gemeinsam mit Bahn-Chef Heinz Dürr (Stuttgarter) das Megaprojekt. Anfänglich wollte die Bahn als Eigentümerin allein finanzieren. Und stellte bald fest, dass eine Umsetzung der ehrgeizigen Planung des Architekten Christoph Ingenhoven mit seinen Glas-Bullaugen zu teuer wird. 1999 drohte die Bahn auszusteigen. Eilig boten sich Land, Region und Stadt Stuttgart als Mitfinanzierer an. Seither gilt "Stuttgart 21" als gesetzt. Aus anfänglich geplanten zwei Milliarden Euro für den Bahnhofsbau und eineinhalb Milliarden Euro für die ICE-Trasse wurden bis heute geschätzte Kosten von zusammen mehr als sieben Milliarden Euro. Die Kosten teilen sich zu großen Teilen Bund und Bahn, zu geringeren Teilen Land, Stadt und Region Stuttgart sowie der Stuttgarter Flughafen, der einen Haltepunkt bekommt. Offizieller Baustart war im Februar. Derzeit werden die Seitenflügel des von Paul Bonatz Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten Bahnhofs entkernt und sollen noch im August abgerissen werden. gar

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