In Fukushima steht die Zeit still

Ichiro Kowata schippt Schnee. Langsam arbeitet sich der 76-Jährige den Weg zwischen den weißen Wohncontainern entlang. Links und rechts schichtet er ordentliche Haufen auf. Zwei andere betagte Männer haben ihre Schaufeln an die Wand gelehnt und machen rauchend Pause. "Außer uns Alten ist fast niemand mehr hier", schnauft Kowata. "Aber irgendjemand muss den Schnee ja wegräumen

 März 2011: Explosion im Atomkraftwerk Fukushima. Foto: dpa

März 2011: Explosion im Atomkraftwerk Fukushima. Foto: dpa

Ichiro Kowata schippt Schnee. Langsam arbeitet sich der 76-Jährige den Weg zwischen den weißen Wohncontainern entlang. Links und rechts schichtet er ordentliche Haufen auf. Zwei andere betagte Männer haben ihre Schaufeln an die Wand gelehnt und machen rauchend Pause. "Außer uns Alten ist fast niemand mehr hier", schnauft Kowata. "Aber irgendjemand muss den Schnee ja wegräumen." Das Räumfahrzeug der Stadtverwaltung haben sie schon lange nicht mehr gesehen.

Dass der Winterdienst die kleine Containersiedlung am Stadtrand von Fukushima vergessen hat, überrascht die Alten nicht. Sie sind Evakuierte aus der Sperrzone um das verunglückte Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi und wissen, dass ihre Mitmenschen nur ungern an die Katastrophe erinnert werden. Zwei Jahre ist es am Montag her, dass am 11. März 2011 ein Erdbeben der Stärke 9,0 den Norden Japans erschütterte. Die Erschütterung löste einen gewaltigen Tsunami aus, verwüstete ganze Landstriche, forderte rund 18 500 Menschenleben und verursachte den schwersten Nuklearunfall seit Tschernobyl. Die wirtschaftlichen, politischen und menschlichen Folgen des Unglücks sind noch lange nicht bewältigt, doch die japanische Öffentlichkeit wendet sich lieber wieder anderen Themen zu. Das nationale Trauma wird verdrängt - und viele Opfer fühlen sich im Stich gelassen.

"Japan versucht weiterzumachen, als wäre nichts passiert", klagt Ichiro Kowata. "Und wir sitzen hier und warten, was mit uns passieren soll." Von den ehemals 6000 Bewohnern seines Heimatortes Itate leben nur noch etwa 200 in den Notbehausungen, die der Kraftwerkbetreiber Tepco gebaut hat. 100 000 Yen (825 Euro) bekommt er von Tepco jeden Monat für seinen Lebensunterhalt. Weil das nicht reicht, verbraucht er nach und nach seine Ersparnisse. "Die Jungen haben sich inzwischen über ganz Japan verteilt, um sich ein neues Leben aufzubauen", erzählt Kowata. In zwei Jahren sollen alle Häuser und Felder in Itate dekontaminiert sein, verspricht Tepco, und auch eine Entschädigungslösung soll bis dahin gefunden werden. "Ich möchte das gerne glauben, aber es fällt mir schwer", gesteht Kowata. Und selbst wenn er und sein Sohn eines Tages wieder den Familienhof bestellen sollten: Welcher Japaner kauft noch Reis und Obst aus Fukushima?

Der Name Fukushima liegt über der Region wie ein Fluch. Er steht nicht nur für eine Tragödie, sondern auch für Japans Unfähigkeit, sie zu bewältigen. Dabei hatten die Japaner stets geglaubt, ihr Land sei auf Naturkatastrophen bestens vorbereitet. Doch Fukushima hat das Gegenteil bewiesen. Die Behörden reagierten wie gelähmt. Statt Notfallpläne zu aktivieren, wurde gepfuscht und vertuscht.

"Im ersten Jahr nach dem Unglück gab es noch viel Kampfeswillen, aber inzwischen ist die Stimmung in Depression umgeschlagen", sagt Satoshi Nemoto, Vorsitzender von Fukushimas Bauernverband. Sein Büro in einer Lagerhalle war einst die Zentrale einer Region, die für ihre landwirtschaftlichen Produkte berühmt war. Heute operiert hier ein Testlabor, in dem die Bauern ihre Ernte auf Radioaktivität prüfen lassen können.

Viele Produkte aus der Region seien unbedenklich, versichert Nemoto. Doch er gibt offen zu, dass die Probleme gewaltig sind. "Die radioaktive Wolke ist über weite Teile von Fukushima gezogen, und eigentlich müssten alle Felder dekontaminiert werden", erklärt er. Mehrere Zentimeter Erde müssten dafür abgetragen werden. Doch weil das bisher nicht geschehen sei und die Landwirte auch keine Entschädigung erhalten, hätten diese begonnen, ihr Land neu zu bestellen - obwohl die radioaktiven Partikel durch die Bewirtschaftung immer tiefer in den Boden gelangen. "Das ist natürlich verheerend", sagt Nemoto, "aber unsere Bauern sehen für sich einfach keine andere Wahl."

"Unsere Regierung, Tepco und die großen Medien stecken unter einer Decke", sagt der frühere Restaurant-Betreiber Sakae Akaishizawa. "Sie wollen sich mit dem Unglück nicht mehr beschäftigen müssen." Dass sich die Anti-Atombewegung, die sich nach Fukushima zu formieren begann, bisher nicht etablieren konnte, sieht er als Beweis dafür, dass Japan am liebsten weitermachen wolle, als wäre nichts passiert. Weil er das nicht zulassen will, sammelt Akaishizawa Erfahrungsberichte und wissenschaftliche Ergebnisse und lässt Informationsbroschüren drucken. "Die Katastrophe hat uns zu Laborratten des nuklearen Zeitalters gemacht", sagt Akaishizawa. "Jetzt haben wir die Verantwortung, das Land an uns zu erinnern."

"Japan versucht weiterzumachen, als wäre nichts passiert."

 März 2011: Explosion im Atomkraftwerk Fukushima. Foto: Abc Tv/dpa

März 2011: Explosion im Atomkraftwerk Fukushima. Foto: Abc Tv/dpa

Ichiro Kowata

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