In deutschen Büros brennt das Licht länger

Brüssel · Ein Rekord, über den sich die Arbeitnehmer in Deutschland kaum freuen werden: Nirgends in der EU werden so viele Überstunden gemacht wie hierzulande. Brüssel findet das nicht tragisch, solange seine Regeln eingehalten werden.

Wenn ein deutscher Arbeitnehmer erst mal so richtig anpackt, lässt er sich auch nicht vom bevorstehenden Dienstschluss bremsen. Zwar gelten die Bundesbürger nach wie vor nicht gerade als Arbeitspferde der EU. Mit 1659 Arbeitsstunden im Jahr werden sie locker von anderen übertroffen - zum Beispiel den Griechen (rund 160 Stunden mehr). Doch bei den Überstunden macht den hiesigen Beschäftigten in Büro und an der Werkbank so leicht keiner etwas nach.

Brüssels Sozialkommissar László Andor war es, der am Wochenende eher beiläufig auf eine neue Statistik seiner Behörde verwies: "In keinem Land der Euro-Zone gibt es einen so großen Unterschied zwischen der tarifvertraglich vereinbarten und der tatsächlichen Wochenarbeitszeit wie in Deutschland ", sagte er in einem Interview. Tatsächlich haben deutsche Tarifparteien eine wöchentliche Arbeitszeit von im Schnitt 37,7 Stunden vereinbart. In Wirklichkeit sind die Arbeitnehmer 40,5 Stunden im Dienst. Das ist deutlich mehr als der europäische Schnitt von 39,7 Stunden.

Doch diese Nachricht gehört keineswegs in die Reihe der stolzen Meldungen des gestrigen Tages - wie zum Beispiel der neue Exportrekord. Denn die Arbeitnehmer bekommen ihren Fleiß nicht angemessen vergütet. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung fand heraus, dass jeder Erwerbstätige im zweiten Quartal 2014 fünf bezahlte, aber auch 6,9 unbezahlte Überstunden leistete. In der Mehrzahl war die Mehrarbeit unfreiwillig und das Ergebnis von wachsendem Druck im Job. Bei einer Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Frühjahr begründete die Mehrheit (61 Prozent) der Befragten die längere Zeit im Büro mit dem Gefühl, das Arbeitspensum nicht schaffen zu können, wenn man nicht länger bleibt. Zwei Drittel gaben an, die Belastungen seien innerhalb der letzten zwölf Monate deutlich gewachsen. Mehr als die Hälfte sagte, sie fühle sich ständig "unter Druck und gehetzt".

Kein Wunder, dass in Berlin inzwischen eine heftige Diskussion um die Frage entbrannt ist, ob ein Arbeitnehmer ständig erreichbar sein muss. Oder ob der Gesetzgeber mit seinen Mitteln etwas tun solle, um dem Burn-Out vorzubeugen. In Brüssel sieht man diese Diskussion mit dem Abstand einer EU-Behörde. "Wichtig ist, dass das Land wettbewerbsfähig ist und dass die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie eingehalten werden - das ist in Deutschland im Allgemeinen der Fall", gab Kommissar Andor zu Protokoll. Die entsprechende Vorgabe aus Brüssel zieht den Schlussstrich bei 48 Stunden Wochenarbeitszeit. An die kommt derzeit kein Land heran. Die längste Zeit im Job verbringen laut EU-Statistikern die Griechen, deren effektive Wochenarbeitszeit bei 44,1 Stunden liegt. Es folgen Österreich (43,19) und Portugal (42,7). Das Schlusslicht bilden die Finnen mit 40 Stunden. Dies sage jedoch über die Produktivität der Beschäftigten und Unternehmen nichts aus, heißt es in Brüssel .

Die Überstunden-Spitzenstellung der deutschen Arbeitnehmer summiert sich im Übrigen auf ein erkleckliches Ausmaß: Im zweiten Quartal, so fand das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung heraus, arbeiteten die gut 38 Millionen Erwerbstätigen in der Bundesrepublik 13,8 Milliarden Stunden - 0,5 Prozent mehr als im Vorjahresquartal. Davon wurden allerdings 262 Millionen Überstunden vom Arbeitgeber nicht entlohnt, was Verdi-Chef Frank Bsirske gestern veranlasste, von einer "faktischen Lohnsenkung" zu sprechen, mit der die Betroffenen ihre Arbeitgeber freiwillig subventionierten. "Sie pflegen einen oft selbstzerstörerischen Umgang mit den eigenen Ressourcen." Eine Änderung dieser Praxis müsse deshalb von den Beschäftigten selbst ausgehen.

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HintergrundOrdnet der Arbeitgeber Überstunden an, muss der Betriebsrat zustimmen. Macht er das nicht, braucht der Arbeitnehmer nicht länger zu bleiben. Die Anordnung ist dann unzulässig. Um das Verfahren zu erleichtern, haben viele Arbeitgeber mit ihren Betriebsräten Rahmenvereinbarungen getroffen. Die Zustimmung des Betriebsrats sei nur in Einzelfällen entbehrlich, sagt Johannes Schipp, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht des Deutschen Anwaltvereins. Das gilt zum Beispiel bei einem Notfall. Der wird aber nur in wenigen Fällen angenommen - etwa bei Naturkatastrophen. Fällt ein Kollege wegen Krankheit aus, reicht das in der Regel nicht. dpa

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