Im Regen gegen Lukaschenko

Minsk. Sie spricht leise, nennt ihren vollen Namen nicht. Wer weiß, welche Folgen das hätte, die Angst sitzt tief. Sie ist allgegenwärtig, in jedem von ihnen. Man solle sie Ljuba nennen, sagt sie. Ljuba, die Liebe. Die Frau ist Ende 60, längst in Rente - und enttäuscht

Minsk. Sie spricht leise, nennt ihren vollen Namen nicht. Wer weiß, welche Folgen das hätte, die Angst sitzt tief. Sie ist allgegenwärtig, in jedem von ihnen. Man solle sie Ljuba nennen, sagt sie. Ljuba, die Liebe. Die Frau ist Ende 60, längst in Rente - und enttäuscht. "Einfach nur müde", von kaum mehr Fleisch auf ihrem Teller, von ihrem mickrigen Einkommen, vom Staat, der unter dem Stichwort "letzte Diktatur Europas" durch die Welt geistert. Weißrussland, Ljubas Heimatland. "Unser Präsident betont gern, dass das ganze Volk hinter ihm steht. Ich will zeigen, dass längst nicht alle seine Macht unterstützen." Ljuba ist nicht allein mit dieser Meinung. Mehrere tausend Menschen versammelten sich am Wochenende in 25 weißrussischen Orten, um für freie Wahlen, die Freilassung politischer Gefangener und das Ende der Preiserhöhungen zu demonstrieren. In Minsk nahm die Miliz sieben Menschen fest.Zunächst war es nur ein stiller Protest. Schweigende Trüppchen quer durch die Stadt. Dann ein klatschender und ein stampfender. Über Monate wuchs die Unzufriedenheit der Weißrussen mit ihrem autoritären Regime. Nun aber haben sie ihre Stimmen erhoben, allein 1000 Menschen versammelten sich in der Hauptstadt. Einige Oppositionsgruppen und unabhängige Gewerkschaften hatten dazu aufgerufen.

"Freiheit", skandieren die Demonstranten im Park der Völkerfreundschaft am nördlichen Ende von Minsk. Sie stehen im Regen, umweht vom kalten Wind. Seit Monaten steckt Weißrussland in der schwersten Finanzkrise seit dem Zerfall der Sowjetunion. Das Land leidet unter gravierender Devisenknappheit und galoppierender Inflation. In den vergangenen neun Monaten stiegen die Preise ums Dreifache, die Löhne fielen um 70 Prozent. Der durchschnittliche Monatsverdienst liegt derzeit bei etwa 120 Euro. Präsident Alexander Lukaschenko redet die Krise klein. "Das wird sich legen", sagt er nur einige Stunden vor den Protesten der Weißrussen. Die Geldknappheit will der Herrscher, den viele im Land nur noch "Er" nennen, mit milliardenschweren Krediten aus China und dem Iran aus dem Weg räumen. Auch der Internationale Währungsfonds soll mit sieben Milliarden US-Dollar einspringen.

Die Europäische Union setzt indes weiterhin auf Sanktionen. Heute wollen die EU-Außenminister sie ausweiten und verlängern. 16 Richter und Staatsanwälte, die an Prozessen gegen Kritiker des Regimes beteiligt waren, kommen auf die Sanktionsliste. Darauf stehen bereits 201 Weißrussen, mit Einreiseverboten und Stilllegung von Konten in der EU belegt. Ljuba kommt zu jedem Protest. "Ich habe ja nichts zu verlieren." Sie hat sich ein Tuch um den Kopf gebunden, hält den Regenschirm darüber. Alle paar Meter stehen KGB-Offiziere in Zivil mit Videokameras und einem Stöpsel im Ohr. Langsam filmen sie die Demonstranten. Häufig wird das Material verwendet, um Aufmüpfige loszuwerden, Studenten verlieren ihren Studienplatz, Arbeiter die Arbeitsstelle. Es ist eine beklemmende Atmosphäre unter grauem Herbsthimmel.

Lukaschenko erklärt im Fernsehen: "Revolutionen wird es bei uns nicht geben, das weißrussische Volk liebt den Frieden." Auch Ljuba liebt Frieden - und will ihn endlich finden, im Protest. Am 12. November will sie wieder kommen, will ihre Bekannten zur Demo mitnehmen. "Die Unzufriedenheit wächst, mit jedem steigenden Rubel für ein bisschen Essen."

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