„Ich will hier raus“

Boston · Nach der Erleichterung über das Ende der Terror-Jagd stellen sich viele Fragen. Der flüchtige Verdächtige ist schwer verletzt, sollte aber noch gestern angeklagt werden. Den getöteten Bruder hatte das FBI als „radikalen Islamisten“ im Visier.

Wann Dschochar Zarnajew verhört werden kann, bleibt im Unklaren. Schwer verletzt liegt er auf der Intensivstation eines Bostoner Krankenhauses. Sein Zustand sei ernst, aber stabil, sagt Deval Patrick, der Gouverneur von Massachusetts. CNN-Informationen zufolge sollte er noch gestern angeklagt werden. Ein Richter sollte ihn dafür am Krankenbett über die Anklagepunkte informieren.

Übe die juristische Behandlung des 19-Jährigenist bereits eine heftige Debatte entbrannt. Angeführt von John McCain fordern republikanische Hardliner, ihn als feindlichen Kombattanten einzustufen, so wie es George W. Bush mit den Gefangenen des Lagers Guantánamo hielt. Die Regierung Barack Obamas wiederum möchte Zarnajew, der im Unterschied zu den Guantánamo-Häftlingen amerikanischer Staatsbürger ist, eine Weile befragen lassen, ohne ihm vorzutragen, welche Rechte er besitzt - dass er Antworten verweigern und sich als Erstes mit einem Anwalt beraten kann. Begründet wird die angestrebte Ausnahmeregelung, heftig angefochten von Bürgerrechtlern, mit akuter Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Falls der Teenager, dies ist der nächste offene Punkt, in Massachusetts vor ein Bundesstaatengericht gestellt wird, bleibt ihm die Todesstrafe erspart, denn das liberale Massachusetts kennt keine Hinrichtungen. Vor einem Bundesgericht ist auch ein Todesurteil möglich.

Dass Zarnajew am Freitagabend aufgespürt wurde, ist vor allem der Geistesgegenwart David Henneberrys zu verdanken. Nach langen Stunden, in denen die Polizei Watertown durchkämmte und niemand seine Wohnung verlassen durfte, wollte Henneberry Luft schnappen und merkte, dass in seinem Garten etwas nicht stimmte. Die Plastikplane auf seinem Boot flatterte im Wind, obwohl er sie festgezurrt hatte. Henneberry sah Blutspuren, eilte ins Haus und wählte den Notruf. Daraufhin wurden die bereits abgerückten Spezialtrupps erneut herbeibeordert. Ein Roboter zerrte die Plane vom Boot, es kam zu einem Feuergefecht, schließlich holte eine Sondereinheit den Verletzten aus seinem Versteck. Offenbar hatte Zarnajew aus seinen Wunden geblutet, nachdem er in der Nacht zuvor angeschossen worden war, bei einer wilden Verfolgungsjagd, die seinen Bruder Tamerlan das Leben kostete.

Dschochar, der Nette, Angepasste, der Mädchenschwarm, ein Amerikaner mit tschetschenischen Wurzeln. Und Tamerlan, der Frustrierte, Strenggläubige, Hadernde, ein Tschetschene in Amerika, der die Kultur seiner neuen Heimat verachtete. So ungefähr lesen sie sich, die eilig verfassten Psychogramme des Bruderpaars. Ob die Tat auf eine schleichende Radikalisierung zurückgeht, kannnoch niemand beurteilen. Dass der Ältere den Jüngeren einspannte, an dieser Version stricken Verwandte der zwei intensiv mit. Dschochar, glaubt Ruslan Tsarni, ein in Maryland lebender Onkel, sei "ein Opfer seines Bruders". Fest steht wohl: Tamerlan, mit 16 in die USA eingewandert, fühlte sich in Boston zunehmend fremd. 2004 ließ der Sohn eines Automechanikers im Interview mit einer Lokalzeitung noch Sympathien erkennen. "Amerika hat viele Jobs. Das ist etwas, was Russland nicht hat. Du kannst hier Geld machen, wenn du bereit bist, zu arbeiten." Später gab er gegenüber einem Fotografen, der ihn porträtierte, den talentierten Faustkämpfer, der von einer Olympiateilnahme träumte. Aber auch den erzürnten Moralapostel: "Es gibt keine Werte mehr, die Leute haben sich nicht mehr unter Kontrolle". Sich selber bezeichnete er als sehr religiös. Er trinke keinen Alkohol und lehne es ab, sich vor Mädchen mit nacktem Oberkörper zu zeigen.

Im Herbst 2008 brach Tamerlan Zarnajew sein Teilzeitstudium am Bunker Hill Community College in der Nähe von Bostonab. 2009 wurde er festgenommen, nachdem er seine Freundin geschlagen hatte. Ein Video, das zu seinen You-Tube-Favoriten zählte, preist eine mächtige islamische Armee, die sich einst in Zentralasien erheben und die Ungläubigen besiegen.

Bereits 2011 wollten die Behörden eines nicht näher bezeichneten Landes, wahrscheinlich Russlands, vom FBI wissen, ob etwas über Kontakte des Sportlers zu extremistischen Kreisen bekannt sei. FBI-Detektive werteten Datenbanken aus und hörten wohl auch sein Telefon ab. Da sie nichts fanden, stuften sie Tamerlan als ungefährlich ein und brachen die Beobachtung ab - ein Punkt, der nun für Diskussionen sorgt. Im Januar 2012 flog der Boxer nach Moskau, im Juli kehrte er zurück. Was in den sechs Monaten geschah, ob er etwa Trainingscamps radikaler Gruppen im Kaukasus aufsuchte, wollen Antiterror-Experten genauer unter die Lupe nehmen.

Dschochar scheint dagegen nie Verdacht erregt zu haben. Von der Stadt Cambridge erhielt er ein Förderstipendium von 2500 Dollar. Allerdings, an der Uni ließen seine Leistungen stark nach. "Schon ein Jahrzehnt in Amerika, ich will hier raus", twitterte er im März 2012. "Ich diskutierte nicht mit Narren, die sagen, Islam sei Terrorismus - lass einen Idioten doch einen Idioten bleiben", schrieb er im Januar 2013. Berlin/Saarbrücken. Nach den Terroranschlägen von Boston hat sich Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) für mehr Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen ausgesprochen. Die Opposition, aber auch Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), der oberste Datenschützer Peter Schaar und Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle warnten vor überzogenen Reaktionen.

"Die Ereignisse in Boston zeigen erneut, wie wichtig die Überwachung des öffentlichen Raums durch Videokameras für die Aufklärung schwerster Straftaten ist", sagte Friedrich der Zeitung "Bild am Sonntag". "Deshalb arbeiten wir zum Beispiel mit der Bahn daran, die Videoüberwachung an den Bahnhöfen zu stärken." Unterstützung erhielt Friedrich vom Generalsekretär der CDU Saar, Roland Theis, der sich ebenfalls für eine "angemessene Ausweitung der Videoüberwachung öffentlicher Plätze" aussprach.

Für den Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, zeigen die Anschlagversuche in Köln 2006 und Bonn 2012 sowie der nun gelungene Angriff in Boston, "welche große Bedeutung eine Videoüberwachung bei potenziellen Anschlagsgefahren haben kann". Sie könne "abschreckend wirken und auch entscheidend bei der Aufklärung von Straftaten helfen", sagte er dem "Focus".

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) lehnt eine flächendeckende Videoüberwachung indes ab. Ihr Chef Bernhard Witthaut verwies im "Focus" auf das Bundesverfassungsgericht: "Karlsruhe hat abschließend entschieden, dass eine Videoüberwachung nur an gefährlichen Orten erlaubt ist."

Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle trat auf die Bremse: "Dass nach einem Ereignis wie in Boston sofort Forderungen formuliert werden, ist Teil des politischen Geschehens", sagte er der "Welt am Sonntag". "Bei der konkreten Umsetzung sollte dann aber wieder Besonnenheit einkehren." Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sagte, Deutschland verfüge über ausreichende Sicherheitsgesetze, das breite und differenzierte Instrumentarium solle man "nicht kleinreden".

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