"Ich war doch kein böses Kind"

Saarbrücken/St. Wendel. Schläge war Edgar Gies gewöhnt. In der Schule tanzte nach dem Krieg noch der Rohrstock. Aber auch zu Hause prügelte der Vater, ein Haustyrann, nicht nur auf Gies und seinen neun Jahre jüngeren Bruder ein, sondern auch auf die Ehefrau. Bis das Jugendamt 1952 kam und Edgar mitnahm, ein Jahr lang, nach St. Wendel, ins Hospital K1

Saarbrücken/St. Wendel. Schläge war Edgar Gies gewöhnt. In der Schule tanzte nach dem Krieg noch der Rohrstock. Aber auch zu Hause prügelte der Vater, ein Haustyrann, nicht nur auf Gies und seinen neun Jahre jüngeren Bruder ein, sondern auch auf die Ehefrau. Bis das Jugendamt 1952 kam und Edgar mitnahm, ein Jahr lang, nach St. Wendel, ins Hospital K1. Dort erlebte er mehr als die erschreckende Brutalität zweier Frauen in Ordenstracht: Abgeschnittensein, Unrettbarkeit, Ohnmacht. "Ich war doch kein böses Kind", sagt er, als müsste er sich rechtfertigen für das, was ihm widerfuhr. Es drängt in nahezu identischen Formulierungen immer wieder aus ihm heraus, als habe er seine bösen Erinnerungen schablonisiert, um sie rational zu bannen. "Wir mussten zum Essen antreten, mucksmäuschenstill. Flüsterte irgendjemand, schlug Schwester Barbara (Name von Red. geändert) mit dem Stock wild in die Gruppe, egal wohin. Oder sie warf mit einem Riesen-Schlüsselbund. Im Duschsaal kam es zu Szenen, die sich kein Regisseur bildgewaltiger ausdenken könnte. Splitterfasernackte Jungs werden von einer Ordensfrau beobachtet. Bis einer ein wenig mit Wasser herumalbert. Die Frau in der Kutte stürzt kreuz und quer durchs Wasser, mit triefenden Schuhen und Säumen, schlägt wahllos zu, auf Knochen und Haut. "Sie war furchtbar", sagt Gies. Und findet sogar noch eine Entschuldigung: "Manche Schwestern waren ja nicht freiwillig im Orden, sondern arme Seelen. Die wurden ja auch irgendwie ausgebeutet." Wie er selbst, jeden Tag. "Wir hatten Zeit für Aufgaben, der Rest war Arbeit." In militärischer Ordnung ging's ab zum Bauern, zum Kartoffelentkeimen. "Über dem Keller war ein Kuhstall. Die Decke war undicht, so dass die Jauche unter die Kartoffeln floss. Die hatten oft ganz lange Keime, waren schrumpelig. Es stank schrecklich. Am nächsten Tag bekamen wir sie vorgesetzt." Wobei Gies weder die Verpflegung noch die Unterbringung beklagt. Not herrschte keine. Satt und sauber galt wohl schon damals. Und die allerwenigsten Nonnen waren schlimm. Gies betont, dass bei Ehemaligen-Treffen andere Heimkinder die Zeit im Hospital weniger belastend erlebt hätten. Gies, ein allzu Sensibler? Tatsächlich ist er der erste Problem-Fall, der dem Geschäftsführenden Direktor Karl Kasper der Stiftung Hospital St. Wendel, zu Ohren kommt. Man sei dabei, die Heimgeschichte aufzuarbeiten, sagt er der SZ. Man werde einen Zeitzeugen-Bericht von Gies zusammen mit anderen in einer Broschüre veröffentlichen. Die letzte Schwester habe 1971 das Hospital verlassen.

Wie viele Betroffene mag es noch geben? Beim Familienministerium ist nur ein Fall bekannt. Der Verein ehemaliger Heimkinder (VEH e.V.), der 400 Mitglieder zählt, hat nur eines aus dem Saarland. Bundesweit, so die Aussage der Pressechefin des Deutschen Caritasverbandes, Claudia Beck, hätten sich seit der offensiven Arbeit des "Runden Tisches" etwa 2000 Kontakte für Diakonie und Caritas ergeben. Eine Liste aller damaligen katholisch geführten Heime gebe es nicht, weder bundesweit, noch regional. Ein Forschungsprojekt an der Uni Bochum sammele Daten. Der Sprecher des Heimkinder-Vereins, Helmut Klotzbücher, wittert dahinter Methode: "Je weniger man preisgibt, desto weniger Betroffene melden sich."

Dabei geht es nicht nur um Image-Schäden, sondern auch um Geld. Doch Gies geht es beispielsweise nicht um Entschädigung: "Ich will mir nicht noch ein Auto kaufen." Auch nicht um Schuldzuweisungen an längst Verstorbene oder die Kirche. "Rachegefühle hatte ich nie." Aber Sehnsucht nach Zuhören? Über 50 Jahre lang gab es für Menschen wie ihn nur privat Gehör. Erst als sich Heimkinder mit einem ungewöhnlichen Petitionsverfahren an den Bundestag wandten, brachen die Dämme des Schweigens. "Niemand hat eine Trauma-Beratung bekommen", erklärt Klotzbücher die lange Stummheit. "Erst im Alter bricht das wieder auf." Er weist darauf hin, dass die Heimkinder neben den Misshandlungen eine unmenschliche Ungewissheit ertragen mussten: Wann komme ich wieder raus? Auch folgte die Stigmatisierung. "Man kommt nicht umsonst ins Heim", habe es geheißen. Dabei waren die meisten nicht etwa schwer erziehbar, sondern Waisen oder Kinder aus problematischen Familien. Tatsächlich hängt auch bei Gies sein fast 60-jähriges "Nachleben" zu einem Gutteil an nur einem Jahr in St. Wendel. Hänseleien in der Lehre, Staubfegen und Hundekot-Wegmachen, bis er abbricht. Sechs Jahre Fremdenlegion, Algerienkrieg, gescheiterte Ehe. Schließlich 33 zufriedene Jahre bei der Straßenbahn-Gesellschaft, Eigentumswohnung auf dem Eschberg. Und ein staatliches Unbedenklichkeitszeugnis für den Hobby-Schützen. "Ich habe einen unbefleckten Lebenslauf", sagt er stolz. Aber keinen leichten.

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