„Ich bin ein menschliches Wesen, keine Passnummer“

Washington · Über 100 Häftlinge verweigern seit Wochen in Guantánamo das Essen. In einem Brief schildert ein Mann aus dem Jemen, wie er zwangsernährt wird. US-Präsident Obama verspricht erneut, das umstrittene Lager zu schließen.

Ein Mann wiege nur noch 77 Pfund, ein anderer 98, "und beim letzten Mal, als ich auf der Waage stand, waren es 132, aber das war vor einem Monat". Samir Nadschi al-Hassan Moqbel ist im Hungerstreik, vor einigen Tagen hat er sich aus Guantánamo zu Wort gemeldet, in einem offenen Brief. "Niemand glaubt im Ernst, dass ich gefährlich bin. Aber ich bin immer noch hier." Seit elf Jahren und vier Monaten sitzt der Jemenite im Gefangenenlager auf Kuba. Im Herbst 2001 aus Afghanistan geflohen und kurz darauf in Pakistan verhaftet, beteuert Moqbel seine Unschuld: Er sei schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. "Wegen einer Straftat wurde ich nie angeklagt. Ein Verfahren habe ich nie bekommen." Festgehalten werde er nur, weil Präsident Barack Obama es ablehne, Häftlinge zurück in den Jemen zu schicken. "Das macht keinen Sinn. Ich bin ein menschliches Wesen, keine Passnummer, und ich verdiene es, wie eines behandelt zu werden." Er sei jetzt 35 und wolle endlich nach Hause.

Die verzweifelt klingenden Zeilen helfen, die Gründe eines Hungerstreiks zu verstehen, dessen Dimensionen alles übertreffen, was das Camp bislang erlebte. Dass Häftlinge in Guantánamo die Nahrung verweigern, ist nichts Neues. Nur sind es mittlerweile 105 von 166. Am Wochenende beorderte das Pentagon 40 Ärzte und Krankenpfleger als Verstärkung auf den karibischen Flottenstützpunkt, zusätzlich zu den etwa 100 medizinischen Kräften, die bereits dort stationiert sind. 21 Gefangene werden zwangsernährt mit einer Art Brei.

Es bedeutet, dass ihnen ein Schlauch durch die Nase in den Magen geführt wird, während sie, die Körper mit Riemen festgezurrt, auf einer Pritsche liegen. Er könne gar nicht beschreiben, was für eine Tortur dies sei, klagt Moqbel. "Als der Schlauch hineingestoßen wurde, fühlte ich mich, als müsste ich erbrechen, aber ich konnte es nicht. In der Brust, in der Kehle, im Bauch, überall litt ich furchtbare Schmerzen."

Unterdessen lassen die Verhältnisse in Guantánamo die Debatte um die Zukunft des Lagers in neuer Schärfe aufflammen. Am Dienstag betonte Obama, er werde sich weiter für die Schließung einsetzen. "Ich glaube, es ist wichtig, dass wir verstehen: Guantánamo ist nicht notwendig, damit Amerika sicher bleibt. Es ist teuer. Es ist ineffizient. Es schadet unserem internationalen Ansehen. Es ist ein Mittel zur Rekrutierung von Extremisten."

Ins Rollen gekommen war die Protestwelle vor knapp drei Monaten, aus welchem Anlass, dazu gibt es verschiedene Versionen. Folgt man den Anwälten der Gefangenen, durchsuchten Aufpasser die Zellen am 6. Februar sehr viel gründlicher nach geschmuggelten Gegenständen, als es lange Zeit üblich war. Ungewöhnlich aggressiv sollen sie Koran-Exemplare durchblättert haben. Dem Militär zufolge handelte es sich hingegen um die Routine eines monatlich stattfindenden Checks.

Unbestritten ist das Frustpotenzial, das sich da bereits angestaut hatte. Wegen Obama, dem Präsidenten, der in der Euphorie seiner ersten Amtstage versprach, Guantánamo binnen zwölf Monaten aufzulösen. Als er seine zweite Amtszeit antrat, schloss er das Büro Daniel Frieds, des Sonderbeauftragten, der die Überstellung von Häftlingen in andere Länder organisieren sollte.

Dabei waren 86 Insassen von den US-Geheimdiensten längst als unbedenklich eingestuft worden. 56 der 86 stammen aus dem Jemen. Sie könnten heimkehren, hätte Obama nicht sämtliche Häftlingstransfers gestoppt, seit der Nigerianer Umar Faruk Abdulmutallab Weihnachten 2009 versuchte, an Bord einer Transatlantikmaschine mit Kurs auf Detroit einen Sprengsatz zu zünden. Der "Unterhosenbomber" war bei einem Ableger Al Qaidas im Jemen ausgebildet werden. In Washington verstärkte es die Befürchtung, freigelassene Jemeniten könnten sich Terrorzellen anschließen. Am 13. April folgte die nächste Eskalationsstufe. Im Camp VI, wo Rückkehrkandidaten den Tag in Gemeinschaftsräumen verbringen durften, wurden im Zuge einer Razzia die Regeln verschärft. Nunmehr dürfen die Insassen ihre Zellen nur noch in Ausnahmefällen verlassen. Die Zahl der Hungerstreikenden hat sich seitdem verdoppelt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort