Hongkong probt den Aufstand

Hongkong · Vor 17 Jahren schenkte Peking der einst britischen Kolonie eine Art Autonomie. Den Hongkongern reicht das nicht. Sie wollen eine freie Wahl und besetzen nach und nach ihre Stadt.

Es ist schon ein paar Jahre her. Da stand Oscar Lai Man-lok in der Großen Halle des Volkes in Peking . Diesem bombastischen Bau an der Westseite des Tiananmen. Also dem Platz, auf dem Chinas Armee 1989 Studenten, Arbeiter, Bürger massakrierte. Oscar, noch ein Schüler, hatte sich eine knallrote Krawatte umgebunden. So hatte man es jedem von ihnen gesagt, den Jugendlichen aus Hongkong , die in die Hauptstadt gekommen waren. Eine Metropole, die sich so fremd anfühlte wie die Krawatte um den Hals. Sie seien ja Chinesen, die Zukunft des Landes, auch wenn sie aus Hongkong kommen, dieser von britischen Kolonialisten über Jahrzehnte geknechteten Stadt. "Willkommen! Und klatschen bitte!", wurden sie aufgefordert. Oscar reihte sich ein in die Menge - weigerte sich aber zu klatschen. Ob er nicht stolz sei, Chinese zu sein? "Ich bin Hongkonger. Ich klatsche, wann ich will."

Nun steht Oscar auf den Barrikaden - und Hongkongs Finanzdistrikt steht Kopf. Zehntausende Menschen streben ins Stadtzentrum, setzen sich auf den Boden, stehen so für ihre Bürgerrechte ein. "Wir müssen aufstehen von den Knien, in die uns Peking zwingen will, wie ein traditioneller Patriarch, der sagt, was wir zu denken und zu fühlen haben", sagte Oscar noch vor ein paar Tagen. Da saß der 20-jährige Student der Sozialen Arbeit in einer Kantine in Kowloon, nur unweit seiner Uni in Hongkong , und erinnerte sich an den Besuch in Festlandchina, so inszeniert, so abstoßend. Er erzählte von seinen Plänen, seinen Zielen. Es war die Ruhe vor dem Sturm, der in der Nacht zu Sonntag ausgebrochen ist, der sich in der Woche zuvor zusammenbraute, mit Studentenprotesten, Streiks, Unterrichtsboykott, organisiert von Oscars Aktivistengruppe "Scholarism" und unterstützt von Hochschullehrern.

Ein naives Vorgehen? Auf jeden Fall eine Herausforderung. Hier die von Idealismus gepackte Jugend, dort ein autoritärer Ein-Parteien-Staat, mit zwei Millionen Soldaten im Rücken und 85 Millionen Parteimitgliedern, mehr als zehn Mal so viel, wie Hongkong Einwohner hat. Ein Wahnsinn eigentlich. Oscar lächelt leise, rückt seine schwarze Hornbrille zurecht und sagt, was Peking nur schwer zu begreifen scheint: "Wir sind eben Hongkong , anders als China."

Es ist eine Identitätsfrage, ein chinesisch-chinesischer Kulturkampf, der in Hongkong entbrannt ist. Diese feucht-heiße Stadt, die oft aufs schnelle Geld aus ist, hat sich politisiert, weil Peking immer zudringlicher wird und die Hongkonger Regierung immer hilfloser. Studenten gehen auf die Straße, Anwälte, Priester, selbst Abgeordnete. Die "Occupy Central"-Aktion, mit der sie eigentlich erst am 1. Oktober, dem chinesischen Nationalfeiertag, anfangen wollten, ist in vollem Gange. Das Herz dieser Stadt soll zu schlagen aufhören, weil Peking den Hongkongern vorschreibt, wie sie in drei Jahren ihren Regierungschef zu wählen haben. Nämlich so: Ein Wahlgremium aus 1200 pekingtreuen Personen bestimmt zwei bis drei Kandidaten. Später muss die Zentralregierung in Peking ihr Einverständnis geben. Ein unabhängiger Bewerber hätte dadurch keine Chance.

Die Farce zeigt die Angst Pekings, seine Kontrolle über die Regierung einer Stadt abzugeben, die wegen ihrer Liberalität im Finanzwesen eine wichtige Rolle für China spielt. Hier funktioniert vieles, was in Festlandchina nicht funktioniert, ja gar verboten ist. "Ein Land, zwei Systeme", heißt die politische Formel, eine gewisse Autonomie, die Peking den Hongkongern schenkte, als die Stadt 1997 wieder chinesisch wurde.

Alle sprechen jetzt vom Kompromiss. Wie dieser aussehen soll, weiß niemand. Man hätte das Einverständnis aus Peking über die Kandidaten einfordern, aber das Nominierungskomitee wenigstens von Hongkongern wählen lassen sollen. Andere meinen, die Hongkonger sollen die von Peking geforderten Bewerber akzeptieren, doch soll Peking wenigstens einen unabhängigen Kandidaten erlauben. Bereits jetzt streuen die Pro-Pekinger Gerüchte, rufen Zeitungen und Betriebe an, erkundigen sich, wie die Mitarbeiter zu Occupy Central stehen. Es ist eine finanziell breit gestützte Propaganda-Maschinerie, wie sie in China oft genug erprobt wurde.

Fast fünf Jahrzehnte lang waren die Menschen aus der Volksrepublik nach Hongkong geflüchtet. Sie waren den Kommunisten und ihren Gräueltaten in diese Stadt entkommen, voller Willensstärke, sich nicht unterwerfen zu lassen. Für sie, die Flüchtlinge vom Festland, war Hongkong ein geliehener Ort, für ihre Kinder ist Hongkong ihre Heimat, mit geradezu vererbter Abneigung gegen die Kommunistische Partei.

Nun setzt die Polizei Tränengas gegen die stolzen Hongkonger ein, es gibt Festnahmen, Verletzte - und immer mehr Einwohner schließen sich dem Occupy-Protest an. Vor einem Jahr hatte Rechtsprofessor Benny Tai Yiu-ting die Bewegung ins Leben gerufen, in der Hoffnung, nur die bloße Drohung, den Finanzdistrikt zu besetzen, könne Peking zum Umdenken bringen. Er hätte es besser wissen müssen. Ganz in Schwarz saß er vor einigen Tagen in seinem Büro an der Universität und wünschte, Peking möge doch mit den Hongkongern sprechen. "Nur weil wir eine freie Wahl fordern, heißt es noch lange nicht, dass wir uns von Peking abwenden", sagte er. Tai unterstützt durchaus Pekings Bestreben nach nationaler Sicherheit, doch "kann Peking definieren, wie diese ausgeführt wird? Wir sagen Nein." Seine Bewegung sagt zu vielem "Nein": zu Chinas Methoden, unliebsame Kritiker aus dem Weg zu räumen, zur Schließung von Zeitungen, weil Journalisten nicht "objektiv" schreiben, zu allumfassender Kontrolle durch die Partei. Zu einer Sache aber sagt sie laut "Ja": freies und allgemeines Wahlrecht. "Wir sind eine freie Stadt", sagt der 50-Jährige Tai immer wieder.

Das sagen auch die Kritiker der Demonstranten. Stanley Lau Chin-ho versteht nicht, was die Jugend will. In Anzug und Krawatte sitzt der Vorsitzende der Hongkonger Industrievereinigung in seinem Büro in Kowloon. "Eine schädliche Entwicklung", sagt der Mittfünfziger, der mit seinem Uhrenunternehmen "Renley Watch" Fabriken in ganz China führt und die Uhren auch in Hongkong verkauft. Den Wahl-Vorschlag aus Peking findet er "fair", schließlich sei Hongkong kein unabhängiges Land und Peking müsse sich auf Hongkong verlassen können. "Wir sind eine besondere Stadt", sagt Lau und wiederholt genau das, was auch die Peking-Gegner betonen. Nur ihre Definition der "Besonderheit" ist eine unterschiedliche - genau wie die der "freien Wahl".