Höhenflug der Union endet in Europa

Sigmar Gabriel wählt gern große Worte. „Das ist der größte Zugewinn, den die SPD jemals bei einer deutschlandweiten Wahl erzielt hat“, ruft der SPD-Chef den Anhängern zu.

Als er mit Martin Schulz um 18.31 Uhr die Bühne im Willy-Brandt-Haus betritt, schallt es laut: "Martin, Martin!" Dem europaweiten SPD-Spitzenkandidaten wird das überraschend gute Ergebnis von über 27 Prozent zugerechnet. So viel Jubel gab es bei der SPD schon lange nicht mehr an einem Wahlabend.

Gabriel erinnert Kanzlerin Angela Merkel schon einmal daran, dass nur ein Spitzenkandidat, der zur Wahl gestanden hat, nächster EU-Kommissionspräsident werden kann. Gabriel setzt auf Schulz. Zeitgleich erntet der deutsche CDU-Spitzenkandidat David McAllister Beifall, als er sagt: "Jean-Claude Juncker ist auf gutem Weg, Kommissionspräsident zu werden." Er ist der Spitzenkandidat der konservativen Parteien in Europa. Beide müssen sich nun um eine Mehrheit im EU-Parlament kümmern, Schulz reist nach seinem Auftritt daher sofort nach Brüssel.

Gabriel hat mit harschen Worten ("Volksverdummung") davor gewarnt, wieder den EU-Kommissionschef im Hinterzimmer zu küren, dann könne man sich die nächste Europawahl schenken. Daran wird er gemessen werden. Auch wenn das auf Juncker hinauslaufen kann.

Ihr offiziell ausgegebenes Ziel hat die Union erreicht: Sie ist in Deutschland deutlich stärkste Kraft geworden. Dennoch ist das Ergebnis für CDU und CSU eine herbe Enttäuschung. Nach den 41,5 Prozent bei der Bundestagswahl 2013 hatten sich viele in den beiden Schwesterparteien zunächst ein "40 plus x" erhofft. Schon länger dämmerte den Unionisten, dass das nichts wird. Doch mit unter 37 Prozent und somit dem wohl schlechtesten Abschneiden seit der ersten Europawahl 1979 hatte wohl niemand in der Union gerechnet.

Als die Prognose bei der Wahlparty in der CDU-Parteizentrale eingeht, herrscht: Schweigen. Einige Kilometer weiter im Willy-Brandt-Haus dagegen Begeisterung, als der schwarze Balken der Union bei der 36 vor dem Komma stehen bleibt. Der satte SPD-Zugewinn dürfte nun die Verhandlungen der Koalitionäre über die Spitzenposten in der EU-Kommission erschweren. Und für die CSU dürfte es ein Schock sein, wenn das Endergebnis die eurokritische Alternative für Deutschland (AfD) tatsächlich bundesweit vor der Partei von CSU-Chef Horst Seehofer sieht.

Das Ergebnis könnte aber auch ein Dämpfer für die CDU-Vorsitzende Merkel sein. Hohe Parteifunktionäre schütteln zwar mit dem Kopf. "Nein", heißt es energisch am Abend im Konrad-Adenauer-Haus. Aber eine Begründung fällt ihnen nicht ein, denn die Christdemokraten hatten ihren Europawahlkampf auf Merkel zugeschnitten. Vor allem ihr Gesicht wurde plakatiert. Dabei stand die Kanzlerin gar nicht zur Wahl. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagt: "Es ist zu früh, einzelne Details anzuschauen."

Die SPD sei mit einem deutschen und europaweiten Spitzenkandidaten im Vorteil gewesen, lauten Erklärungsversuche bei der Union. Und der Wegfall der Drei-Prozent-Hürde wird genannt. Hier hätten Wähler vielleicht zum Beispiel der Tierschutzpartei ihre Stimme gegeben - im Wissen, dass sie nicht verschenkt ist. Verluste von einigen Prozentpunkten für ihre Partei dürften Merkel international aber kaum schaden. In Europa gilt sie unbestritten als stärkste und mächtigste Kraft.

Einen Schrecken jagt die FDP der Union ein. Mit nur rund drei Prozent (2009: elf Prozent) schwinden Hoffnungen auf eine Wiederauflage von Schwarz-Gelb im Bund weiter. Viele Anhänger der Liberalen hätten diesmal die AfD gewählt, wird bei der Union analysiert - eine Partei, die CDU und CSU noch zu schaffen machen könnte.

Die SPD hingegen hat erstmals, seitdem Willy Brandt 1979 in das Europaparlament einzog (Ergebnis: 40,8 Prozent), wieder bei einer Europawahl zugelegt, 2009 war mit 20,8 Prozent der Tiefpunkt erreicht. Auch das Bundestagswahlergebnis von 25,7 Prozent wurde nun übertroffen. Für das Arbeiten in der großen Koalition könnte der Zugewinn hilfreich sein. Bei einem schlechten Ergebnis hätte Unruhe in der SPD das Regieren für Merkel erschweren können.

Da es ein Merkmal der Koalition ist, dass Merkel, Seehofer und Gabriel alles Wichtige unter sich regeln, treffen sie sich an diesem Montagabend wieder unter sechs Augen. Sie müssen eine gemeinsame Linie für den Poker in Brüssel finden. Keine leichten Gespräche - gerade nach Gabriels klarer Ansage in Sachen Kommissionschef.

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