Höchste Auszeichnung in größter KriseWas die Saarländer von der EU halten

Oslo. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy führte im Osloer Rathaussaal vor, wie man das ganz große Pathos in unscheinbare kleine Sätze packen kann. "Meine Damen und Herren, es hat funktioniert. Frieden ist jetzt selbstverständlich", fasste der Belgier gestern bei der Verleihung des Friedensnobelpreises für 60 Jahre Friedensbemühungen durch die europäische Einigung zusammen

Oslo. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy führte im Osloer Rathaussaal vor, wie man das ganz große Pathos in unscheinbare kleine Sätze packen kann. "Meine Damen und Herren, es hat funktioniert. Frieden ist jetzt selbstverständlich", fasste der Belgier gestern bei der Verleihung des Friedensnobelpreises für 60 Jahre Friedensbemühungen durch die europäische Einigung zusammen.Aber auch die wohl prestigeträchtigste aller Auszeichnungen - traditionell am Todestag von Preisstifter Alfred Nobel verliehen - kann nicht darüber hinwegtäuschen, in welch tiefer Krise die Europäische Union derzeit steckt. Die Finanzkrise in der Eurozone ist längst nicht ausgestanden, auch wenn Hermann Van Rompuy sagt: "Die unmittelbare Bedrohung ist fast vorüber."

Ärmere und reichere Mitgliedsländer streiten um die künftige Finanzierung. Staaten wie Großbritannien suchen nach Möglichkeiten, sich europäischen Regelungen zu entziehen. Sogar das Wort "Austritt" ist im Vereinigten Königreich längst kein Tabu mehr. Immer mehr Länder drängen in die Union - was die einen für einen Erfolg halten, macht die EU für andere unregierbar.

Gestern in Oslo lenkten die EU-Repräsentanten die Aufmerksamkeit auf das Erreichte und weg von den Problemen. Vor Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsidenten François Hollande als stillen Zuhörern fand Van Rompuy die persönlichsten Worte für die immer wieder als Grundstein für das erfolgreiche Friedensprojekt genannte deutsch-französische Aussöhnung: "Immer, wenn ich die Worte Freundschaft (auf Deutsch) und Amitié höre, bin ich bewegt." Die sichtlich gerührte Kanzlerin und Hollande reckten wie zur Bestätigung gemeinsam unter dem Applaus des Publikums im Osloer Rathaus den ausgestreckten Arm in die Höhe.

Zuvor hatte Van Rompuy - ebenso wie der norwegische Nobelkomitee-Chef Thorbjörn Jagland - die Geste von Altbundeskanzler Helmut Kohl in Erinnerung gerufen, als dieser sich mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand Hand in Hand gezeigt hatte. Auch Kohls allseits anerkannte Rolle am Ende des Kalten Krieges fand Erwähnung: "Wir müssen der Bundesrepublik und ihrem Kanzler Helmut Kohl Tribut zollen für die Übernahme von Verantwortung und das Akzeptieren enormer Kosten für die Menschen der Bundesrepublik, als Ostdeutschland praktisch über Nacht in ein vereintes Deutschland einging", sagte Jagland.

Das hätte sich der jahrelang als Favorit auf den größten aller Friedenspreise gehandelte Kohl wohl gern selbst in Oslo sagen lassen. Nun aber saß statt seiner ein anderer Deutscher auf einem der Stühle für die Preisträger: der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz.

Der Sozialdemokrat bekam kein Rederecht, hatte aber bei einer vorausgegangenen Pressekonferenz im Nobelinstitut weit stärker als Van Rompuy auf Gefahren für das Friedensprojekt EU durch Finanzkrise und zunehmenden Nationalismus hingewiesen: Er wolle nicht wie im von ihm geschätzten Roman "Buddenbrooks" von Thomas Mann einer dritten Generation nach den "Gründern" und den "Verwaltern" angehören, die "das Erbe verspielt". Van Rompuy wies die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in einem Interview darauf hin, dass in der Krise nun Werte wie Solidarität und Verantwortungsbewusstsein zählten.

Dass der zum harten Euroskeptiker mutierte britische Premierminister David Cameron dies ganz anders sieht, demonstrierte er durch sein demonstratives Fernbleiben von der Osloer Verleihung. Ob sein europafreundlicherer Stellvertreter Nick Clegg trotz oder wegen Camerons Fernbleiben nach Oslo kam, blieb zunächst im Dunkeln.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso freute sich, dass die Union im Nichtmitgliedsstaat Norwegen - der Heimat von Preisstifter Alfred Nobel - geehrt wurde. "Diese Unabhängigkeit wertet den Preis noch auf." Der Portugiese musste allerdings auch notieren, dass die Popularität der Europäischen Union bei den dank Öl und Gas reichen Norwegern nie so gering war wie gerade jetzt. Mehr als 70 Prozent sprechen sich in Umfragen gegen den Beitritt aus, den die 4,5 Millionen Skandinavier bei zwei Volksabstimmungen 1972 und 1994 auch schon gegen den Willen ihrer Regierung abgeschmettert hatten.Stephan Toscani (CDU), Europaminister des Saarlandes: "Die Entscheidung des Nobelpreis-Komitees zeigt, wie wichtig die europäische Integration für den Frieden, die Demokratie und die Bürgerrechte in Europa ist. Europa ist heute wie damals im Jahr 1950 eine Herzenssache der Saarländerinnen und Saarländer."

Alessio Catalanotto (25) stammt aus dem Nordwesten Italiens und lebt seit zwölf Jahren in Saarbrücken. Nach wie vor hat er die italienische Staatsbürgerschaft: "Ich finde es gut, wenn man in Europa zusammen eine Lösung für die Probleme findet. Und ich finde es gut, wenn sich die Länder in Europa gegenseitig helfen."

Frank Fried (53) ist Saarbrücker und engagiert sich in der Europa-Union: "Der Nobelpreis ist gerechtfertigt, wenn man sich den Prozess ansieht, der belohnt wird. Der Preis wird ja rückwirkend verliehen für das, was man in den vergangenen 50, 60 Jahren auf den Weg gebracht hat. Das ist auch die Belohnung dafür, wie man in der EU Kriege verhindert und ein politisch stabiles Europa schaffen kann."

Birgit Grandhomme aus Illingen ist mit einem Franzosen verheiratet und engagiert sich in der grenzüberschreitenden Senioren-Organisation Europage: "Der Nobelpreis ist das richtige Signal zum richtigen Zeitpunkt, weil Europa ja gerade in der Krise ist. Diese Anerkennung kommt zur rechten Zeit. Man sollte verstehen, dass es besser ist, bankrotte Mit-Europäer zu unterstützen als neue Kriege zu riskieren."

Benjamin Brantzen (25): "Ich finde die Verleihung des Nobelpreises gut, auch als Motivation für die Zukunft - vor allem, wenn man die letzten Jahrzehnte betrachtet, wo die EU den Frieden gesichert hat. In jedem Fall ist dieser Preis gerechtfertigter als der für US-Präsident Obama."

Surya Baray (20) ist afghanischer Abstammung, aber in Deutschland geboren: "Es wäre schön, wenn wir in Europa so werden wie die USA, mit Deutschland und Frankreich als eine Art Bundesländer. Wenn man sich in Europa zusammenschließt, könnten wir vielleicht tatsächlich so groß werden wie die USA." jöw

"Wir müssen der Bundesrepublik und ihrem Kanzler

Helmut Kohl Tribut zollen."

Thorbjörn Jagland, Vorsitzender des Nobelkomitees

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